Thema
Haben wir die Mathematik entdeckt – oder erfunden?

Text
Lissi Pörnbacher

Illustration
Aisha Franz

Das Rätsel um die 196: Wie lässt sich etwas beweisen, das vielleicht nicht existiert?

Haben wir die Mathematik entdeckt – oder sind Zahlen bloß Erfindungen in unseren Köpfen? Es gibt Menschen, die jahrzehntelang versuchen, die Existenz bestimmter Zahlen zu beweisen – und sich dabei dieser fundamentalen Frage der Mathematik stellen.

Wenn Wade VanLandingham an der Zapfsäule steht, füllt er so lange Treibstoff in seinen Truck, bis auf der Anzeigetafel 44,44 Dollar steht. Dabei beobachtet er immer wieder Menschen, die für 30,03 Dollar Treibstoff tanken oder für 25,52 Dollar. Solche Zahlen, die von vorne und von hinten gelesen den gleichen Wert haben, heißen Palindrome. Sie faszinieren einige Menschen so sehr, dass sie versuchen, aus allen möglichen Zahlen Palindrome zu berechnen.

Das erste Mal, als Wade VanLandingham von Palindromen hörte, war 1998. Damals las er auf der Webseite des Programmierers John Walker die Aufforderung: »Wähle eine Zahl. Drehe die Ziffern um und addiere die resultierende Zahl zu der ursprünglichen Zahl. Wenn das Ergebnis kein Palindrom ist, wiederhole den Vorgang. Werden alle Zahlen in unserem Dezimalsystem durch diesen Prozess zu Palindromen? Das weiß niemand.«

Addiert man 21 mit ihrer Umkehrzahl 12, erhält man bereits nach einem Schritt ein Palindrom: 33. Bei anderen Zahlen braucht es mehr Schritte. Aber es gibt auch Zahlen in unserem Dezimalsystem, die nach tausenden von Umkehr- und Additionsschritten noch immer kein Palindrom bilden: 879 etwa oder 1.997. VanLandingham dachte sich einen Namen für diese Zahlen aus. Er nannte sie Lychrel-Zahlen – ausgesprochen »la-shrel«. Darin steckt ein abgewandeltes Anagramm vom Namen seiner Freundin: Cheryl. Die, so scherzt er, war so glücklich darüber, ihren Namen in der Bezeichnung »Lychrel« wiederzufinden, dass sie seine Frau wurde.

Die kleinste Lychrel-Zahl ist 196. Wobei: Eigentlich sind alle Lychrel-Zahlen im Dezimalsystem nur Lychrel-Zahl-Kandidaten, denn niemand weiß, ob sie wirklich existieren oder irgendwann doch ein Palindrom bilden. Wegen des kleinsten Kandidaten, der 196, heißt der Umkehr- und Additionsalgorithmus auch 196-Algorithmus. Und die Frage, ob alle Zahlen irgendwann Palindrome bilden, ist auch als 196-Problem bekannt. Wade VanLandingham nutzt deswegen die Domain p196.org für seine Webseite und für das Nummernschild seines Trucks.

Wer p196.org besucht, kann sich durch ein Museum von Fakten rund um die Suche nach Palindromen klicken. Oder er kann an immer neuen Zitaten hängenbleiben. Einmal steht da ein Satz des Mathematikers William Anglin: »Mathematik ist kein vorsichtiger Marsch auf einer gut ausgebauten Straße, sondern eine Reise in eine fremde Wildnis, in der sich die Entdecker oft verirren.«

Diese Aussage zeichnet Mathematiker:innen als Menschen, die Dinge vorfinden in einer fremden Welt. Wenn wir etwa eins und zwei zusammenzählen, dann erscheint es uns ganz natürlich, dass sich daraus drei ergibt. Und jede andere Person, die addieren kann, kommt zum selben Ergebnis. Es scheint, als würden wir diese Summe vorfinden in der Welt. Nur: Eigentlich haben doch wir Menschen die Regeln zum Rechnen festgelegt. Ist nicht alle Mathematik – inklusive der Lychrel-Zahlen, deren Existenz nicht einmal bewiesen ist – bloße Erfindung? Oder würde eins plus zwei auch drei ergeben, wenn es keine Menschen gäbe?

Die entscheidende Frage ist also: Haben wir die Mathematik entdeckt oder haben wir sie erfunden? Auf der Suche nach Antworten begeben wir uns auf eine Reise in die Wildnis der Mathematik.

Erster Halt: Anfänge

Franka Miriam Brückler wollte eigentlich Grafikdesignerin werden. Heute unterrichtet sie Mathematikgeschichte an der Universität in Zagreb, Kroatien. Besonders begeistert sie sich für die Menschen und ihre Geschichten in der Geschichte der Mathematik. Darüber hat sie zwei Teile eines Buches geschrieben; es trägt den Titel Geschichte der Mathematik kompakt. Und darüber spricht sie gern – und schnell: Sie ist die Straßen der Mathematikgeschichte schon so oft hin- und hergefahren, dass sie darauf rast, als wären es Autobahnen.

In ihrem Buch schreibt sie: »Während viele Menschen denken, die Mathematik wäre vor langer Zeit ‚fertiggestellt‘, ist die Wahrheit weit davon entfernt.« Die Mathematik entwickelt sich immer weiter – und das immer schneller. Sie ist verzweigt, denn: »Jedes mathematische Resultat, welches je korrekt bewiesen wurde, bleibt ein Teil der Mathematik und wird nicht durch neue Erkenntnisse widerlegt.« Die Mathematik, so Brückler, sei verworren mit äußeren Einflüssen. Vermutlich endet sie nie. Doch: Wo beginnt sie?

Es scheint, als wäre die Mathematik in uns angelegt: Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere haben ein Gefühl für Menge und Raum. Schon seit hunderttausenden von Jahren können sie einschätzen, wie weit etwas entfernt ist oder merken, wenn etwas fehlt. Spätestens in der Steinzeit müssen die Menschen dann angefangen haben zu zählen, sagt Brückler. Im Alten Ägypten, in Mesopotamien, Indien und China entwickelte sich schließlich der Handel. Die Menschen begannen, ganz praktisch zu rechnen: Sie berechneten etwa, wie groß eine bewirtschaftete Landfläche ist, um Bauern besteuern zu können. Oder wie man neun Brotlaibe unter zehn Arbeitern aufteilen kann.

Im Alten Griechenland dann fing das logische Argumentieren an. Die Griechen stellten mathematische Axiome auf und leiteten daraus weitere Sätze ab. »Axiome sind Behauptungen, die man als wahr annimmt«, erklärt Brückler. »In der Antike waren Axiome ganz offensichtlich wahre Behauptungen, so dass sie gar nicht überprüft werden mussten.« Ein Beispiel des Mathematikers Euklid: Das Ganze ist größer als ein Teil des Ganzen. Alle Sätze, die sich deduktiv, also nach den Regeln der Logik, aus den Axiomen ableiten ließen, akzeptierte man, als wären sie selbst Fakten über das Universum. Doch spätestens im 19. Jahrhundert schufen Mathematiker:innen neue Welten: Sie versuchten, eines von Euklids geometrischen Axiomen zu beweisen, das sogenannte Parallelenaxiom. Dafür nahmen sie dessen Gegenteil an. Und wenn nun diese Annahme zu einem Widerspruch führen würde, hätten sie etwas bewiesen: dass das Parallelenaxiom gar kein Axiom ist. Allerdings fanden drei Mathematiker keinen Widerspruch, sondern eine Idee: Ist eine neue, ganz andere Geometrie möglich? Und tatsächlich: Nicht nur eine andere Geometrie ist möglich, sondern mehrere – die nichteuklidischen Geometrien.

Als die nichteuklidischen Geometrien beschrieben wurden, hatten ihre Entdecker nicht die Absicht, sie in der Realität anzuwenden. Sie waren Kunst. Erst später, als Albert Einstein die Relativitätstheorie aufstellte, stellte sich heraus, dass sie doch die wirkliche Welt beschreiben. Ohne die nichteuklidischen Geometrien wäre die moderne Physik nicht denkbar.

Franka Miriam Brückler sagt: »Mathematik wird oft bezeichnet als die Wissenschaft der Muster und Regelmäßigkeiten. Und von all den kurzen Definitionen ist das die beste. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Mathematik sich nicht nur mit den realen Regelmäßigkeiten der Natur und den anderen Wissenschaften befasst, sondern auch mit abstrakten.« Mathematik sei eine Art Halbkunst. Für eine echte Kunst gebe es zu viele Regeln.

In der Geschichte der Mathematik haben sich Menschen immer wieder gefragt, was Zahlen und mathematische Objekte eigentlich sind. Existieren sie wirklich? Oder bloß in unseren Köpfen? Für den Philosophen Platon war klar, dass mathematische Objekte unabhängig von uns existieren, in einem Ideenhimmel. Alles, womit wir rechnen und messen und beweisen, ist demnach bloßes Abbild dieser Ideen. Heute gibt es viele Denkrichtungen, die mathematische Objekte einzuordnen versuchen. Sind sie fiktive Charaktere wie Tim und Struppi? Oder doch irgendwo da draußen – wie ferne Galaxien, die wir nie zu Gesicht bekommen? Brückler sagt: »Das ist eine Glaubensfrage. Ich bin der Meinung, alle mathematischen Objekte existieren und man ist irgendwie so wie Kolumbus und entdeckt, was schon da ist.«

Zweiter Halt: Entdeckungen

Wade VanLandingham ist kein Mathematiker und eigentlich ist er auch nicht wirklich gut in Mathe, schreibt er in einer Mail. Doch um am 196-Problem zu arbeiten, muss man kein guter Mathematiker sein. »Es war ein Thema, das ich verstehen und bearbeiten konnte. Oder besser gesagt, der Computer konnte damit arbeiten«, schreibt er und sendet ein lachendes Emoji.

Als seine Suche nach dem 196-Palindrom begann, war VanLandingham eigentlich Ingenieur. Er arbeitete an der Elektronik der Internationalen Raumstation. Und er ging oft tauchen. Dabei schwamm er langsam über den Grund des Ozeans und suchte am Boden nach Haifischzähnen. Wenn er einen sah, dachte er: Dieses Ding könnte hier seit 40 Millionen Jahren liegen und kein Mensch hat es je gesehen. So ging es ihm auch mit der Zahl 196. Niemand wusste, was bei dem Versuch, das 196-Problem zu lösen, herauskommen würde. VanLandingham schreibt, wie er damals dachte: »Vielleicht würde ich etwas finden, das noch niemand vor mir gesehen hat.« Ein Gedanke trieb ihn an: »Vielleicht braucht es nur noch eine Wiederholung und die Antwort steht da auf meinem Bildschirm.«

Bereits 1938 hatte der amerikanische Mathematiker Derrick Lehmer nach einem Palindrom von 196 gesucht und in 73 Inversions- und Additionsschritten eine 35-stellige Zahl berechnet – ohne Erfolg. Viele weitere Versuche folgten – von Menschen, die entweder gut mit Zahlen oder mit Computern umgehen können. Oder anderen, die beides nicht so gut beherrschen, aber danach strebten, eine Lösung zu finden für dieses so scheinbar einfache Problem.

Am 12. August 1987 startete der Programmierer John Walker pquest.c auf seinem Computer. pquest.c ist ein Programm, das die Ziffern von 196 umdreht zu 691 und mit 196 zusammenzählt. Dann überprüft es, ob die Summe (887) ein Palindrom ergibt, und geht zum nächsten Schritt über: 887 umkehren zu 788, addieren, überprüfen (auch 1.675 ist kein Palindrom). Umkehren, addieren, überprüfen. So rechnete pquest.c fast drei Jahre lang. Fünf Minuten, bevor der 25. Mai 1990 anbrach, endete das Programm: Es hatte nach 2.415.836 Inversions- und Additionsschritten eine Zahl mit einer Million Ziffern berechnet. Diese Zahl war kein Palindrom.

In seinen Abschlussbericht Three Years Of Computing schrieb John Walker: »Ich habe nicht vor, dieses Ergebnis zu veröffentlichen, weil ich nach drei Jahren, in denen ich die Launen eines Motorola 68020-Mikroprozessors ertragen musste, kein Vertrauen in die Ergebnisse hätte, ohne sie erneut zu überprüfen. Und ich habe nicht vor, weitere drei Jahre zu warten.«

Wade VanLandingham ging es anders. Er glaubte daran, dass er das Problem lösen könne: Schließlich war sein Computer viel besser als der von John Walker.

Also versuchte auch er, ein Programm zu schreiben, das die Ziffern von 196 umkehrte und addierte und auf ein Palindrom überprüfte. Aber, so schrieb er damals auf seiner Webseite, er sei dazu verdammt, niemals ein Softwareschreiber zu werden. Zum Glück fand er die Webseite des Informatikers Jason Doucette und nahm Kontakt mit ihm auf. Doucette hatte sowohl nach dem 196-Palindrom gesucht als auch nach solchen Zahlen, die sehr viele Schritte benötigen, um ein Palindrom zu bilden. So bildet etwa die Zahl 9.008.299 erst nach 96 Schritten ein Palindrom, nämlich 555.458.774.083.726.674.580.862.268.085.476.627.380.477.854.555. Im Jahr 2000 hatte Jason Doucette eine 13-Millionen-stellige Zahl berechnet auf der Suche nach einem Palindrom von 196. Seine Hoffnung schwand, jemals eines zu finden – denn je größer die Zahl, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit, ein Palindrom zu erhalten. Und so schickte er VanLandingham sein Programm. Der lud es auf seinen PC, startete es und ging schlafen. Der Computer lief monatelang. Er endete bei einer 14-Millionen-Ziffern-Zahl. Immer noch kein Palindrom.

Auf seiner Suche ließ VanLandingham auch noch andere Programme von verschiedenen Informatikern auf seinem Computer laufen. Mit dem Programm von Istvan Bozsik erreichte er am 1. Oktober 2001 eine Zahl mit 19 Millionen Ziffern. Eine Woche später brach die Netzwerkverbindung seines Computers ab und er verlor 12 Stunden kostbarer Rechenzeit. Am 29. Oktober 2001 stand auf dem Bildschirm seines Computers eine Zahl mit 21 Millionen Stellen. Im Durchschnitt errechnete die Maschine zu der Zeit 2,1025 Umkehr- und Additionsschritte pro Sekunde und fügte 0,8564 neue Ziffern zu der bestehenden Zahl hinzu.

Damals schrieb VanLandingham auf seiner Webseite über das 196-Problem: »Ich bin sicher, dass ich weitermachen werde, solange ich Zugang zu einem Computer habe. Oder bis die Frage geklärt ist, ob es ein Palindrom bildet oder nicht. Außerdem… es macht irgendwie Spaß.«

In einer Tabelle auf p196.org sind die Meilensteine der Palindrom-Suche festgehalten: Anzahl der errechneten Ziffern, Person, der der Verdienst angerechnet wird, Datum und Codeschreiber sind dort aufgelistet. Neben den berechneten Zahlen mit 14 Millionen Ziffern bis zu Zahlen mit 300 Millionen Ziffern steht immer derselbe Name: Wade VanLandingham.

Dritter Halt: Beweise

Das bloße Ausrechnenlassen von Zahlen am Computer allein lässt zwar vermuten, dass die Lychrel-Zahlen im Dezimalsystem existieren, doch es gibt keine Garantie. Es braucht einen mathematischen Beweis, um das Rätsel zu lösen. Doch wie geht das eigentlich, Beweisen?

Durch Beobachtungen oder Überlegungen entdecken Mathematiker:innen einen Zusammenhang, ein Muster, eine Struktur. So werden sie zu einer Vermutung geführt. Im Fall der Lychrel-Zahlen ist diese Vermutung, dass einige Zahlen kein Palindrom bilden, auch wenn man sie noch so oft umkehrt und addiert. So einfach sich diese Vermutung auch formulieren lässt, so schwierig kann ihr Beweis sein.

Wenn wir Mathematik betreiben, dann übersetzen wir Vermutungen und ihre Beweise in mathematische Symbole. Dabei verlieren die Ideen ihre Erfahrbarkeit: So ist etwa der Raum, in dem wir gerade sitzen, erfahrbar. Aber das mathematische Modell dafür ist eine Menge von Punkten, die nicht abzählbar sind, und schon als solche eine Konstruktion jenseits aller Erfahrbarkeit.

Ernst Kleinert – Mathematiker, Philosoph und Autor des Buches Mathematik für Philosophen – ist der Meinung, in diesem Losgelöstsein von der Erfahrung liegt auch eine der Stärken der Mathematik: Mathematiker:innen müssen die mathematischen Objekte nicht interpretieren, wenn sie herausfinden wollen, ob ein Beweis korrekt ist – sie müssen nur prüfen, ob der Schluss, zu dem sie gekommen sind, den strengen Regeln der Mathematik standhält oder nicht.

Doch um eine Vermutung zu beweisen, kann es durchaus vorkommen, dass Mathematiker:innen einiges erfinden müssen. In einer Mail schreibt Kleinert: »Seit mehr als 100 Jahren arbeiten sich beste Köpfe an der Riemannschen Vermutung ab, und das scheint darauf hinzuweisen, dass ganz neue Methoden gebraucht werden.«

Die Riemannschen Vermutung stand schon im Jahr 1900 auf der Liste der wichtigsten Jahrhundertprobleme, seit 2000 steht es auf der Liste der Millennium-Probleme der Mathematik. Viele Mathematiker:innen versuchten sich an einer Lösung – bisher ohne Erfolg.

Wade VanLandingham erzählt, er erhalte mindestens einmal im Jahr eine E-Mail mit einem Beweis für oder gegen die Existenz der Lychrel-Zahlen. Einige davon seien vielversprechend, erst im vergangenen Jahr besprach er eine spannende Idee mit einigen Ingenieurskollegen: »Am Ende waren wir uns alle einig, dass die Konzepte nicht stichhaltig waren und das Problem nicht gelöst worden war. Der Autor stimmte unserer Meinung zu, war sehr bescheiden und ging zurück an die Arbeit.«

Einer, der ebenfalls nach einem Beweis für die Existenz der Lychrel-Zahlen sucht, ist Rostand Somwa Kuitché. Eigentlich, so sagt er, arbeitet er als leitender Statistiker, Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler im Finanzministerium von Kamerun. Außerdem ist er Mitglied des Forschungsteams Algebra und Logik (ERAL) an der Universität von Yaoundé 1 in Kamerun. Eine seiner Leidenschaften aber ist die Zahlentheorie. 2021, zwei Jahre nachdem er seine Dissertation an der Fakultät für Naturwissenschaften der Universität Yaoundé 1 abgegeben hatte, suchte er online nach ungelösten Problemen der Zahlentheorie. Er stieß auf die Lychrel-Zahlen und die Frage: Warum bilden diese Zahlen im Dezimalsystem kein Palindrom?

Seitdem, so erzählt er, ist das Problem in seinem Kopf: »Und es wird immer da sein – bis ich einen Beweis finde. Oder jemand anderes.« Also versucht er herauszufinden, was die so unterschiedlichen Lychrel-Kandidaten gemeinsam haben: Was sind Eigenschaften, die sowohl für 196 als auch für 879 gelten? Doch wenn er dann weiß, wie die Lychrel-Zahlen beschaffen sind, dann stellt sich die nächste Frage: Reicht das aus, um daraus einen Beweis zu formulieren?

Der Schlüssel zum Lösen des Problems im Dezimalsystem, darin ist sich Kuitché sicher, liegt in der Iterationsfunktion. Sie beschreibt das, was die Codeschreiber am Computer berechneten: das Zusammenzählen der Ausgangszahl mit der umgekehrten Zahl. Aber sie beschreibt es auf mathematische Art und Weise, abstrakt. Mathematisch aufgeschrieben sieht die Funktion so aus:

φ :        N → N

a Ͱ→ a + Rev(a)

Jeden Tag, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, isst er etwas, dann setzt er sich hin und denkt über die Funktion nach. Er sucht nach Eigenschaften der Lychrel-Zahlen, um sie besser zu verstehen, und fragt sich: »Wo führen sie hin?« Seine Ideen schreibt er auf ein Stück Papier und versucht, sie zu verifizieren. Was er bisher herausgefunden hat, veröffentlichte er online in zwei Vorabdrucken: On the Construction of some Lychrel Numbers und On the Iteration Function of Lychrel Numbers. Er sagt: »Es ist ein Dauerlauf.« Oder eben eine Reise in eine fremde Wildnis, in der sich die Entdecker:innen oft verirren.

Vierter Halt: Verlaufen?

Vor einiger Zeit belegte Cheryl, Wade VanLandinghams Frau, einen Mathekurs am College. Sie fragte ihren Professor, ob er wisse, was Lychrel-Zahlen seien. Tatsächlich kannte er die Zahlen. Er sagte: »Sie sind zwar nicht besonders nützlich, aber sehr interessant.«

Der Philosoph Ernst Kleinert schreibt in einer Mail: »Algorithmen wie diesen kann man beliebig erfinden, aber solange keine Anwendungen in Sicht sind (innermathematisch oder anders), bleibt das Ganze eine Spielerei.« Ob eine Zahl eine Lychrel-Zahl ist, hängt vielleicht vom gewählten Zahlsystem ab, schreibt er. Auch das sage etwas über die Grundzahl aus. Schreibt man 196 etwa im Dualsystem, dann sieht die Zahl so aus: 11000100. Und bereits nach dem ersten Umkehren und Addieren ergibt sich: 11100111. Ein Palindrom.

Wo liegt also die Relevanz der Lychrel-Zahlen? Es sei schwierig, die Bedeutsamkeit solcher Muster von vornherein zu beurteilen, schreibt Kleinert: »Und die Frage ist, ob es einen Zusammenhang mit den als bedeutsam angesehenen Fragen gibt.« 100 Jahre lang waren auch die nichteuklidischen Geometrien bloße Denkmöglichkeit – heute sind sie eine Grundlage für die moderne Physik, für die Allgemeine Relativitätstheorie. Wird sich auch bei den Lychrel-Zahlen irgendwann herausstellen, dass sie doch die Wirklichkeit beschreiben?

Fünfter Halt: Antworten

»Im Universum«, sagt Rostand Somwa Kuitché, »gibt es so vieles, das wir nicht verstehen. Mathematik hilft uns, eine komplexe Situation zu übersetzen in Formeln und Zahlen, sodass sie einfacher analysiert werden kann.« Das erklärt auch den großen Erfolg der Mathematik in anderen Wissenschaften: Sie hilft uns, Muster und Regelmäßigkeiten in der Physik zu entdecken, seit langem auch in der Biologie, und diese so zu vereinfachen und zu beschreiben, dass wir sie verstehen können. Doch nicht bloß in den Wissenschaften spielt die Mathematik eine große Rolle: Mengen, Zahlen, Figuren, Wahrscheinlichkeiten sind allgegenwärtig – sie begegnen uns im Alltag. Das Durcheinander der Welt scheint durch die Mathematik in geordnetere Bahnen gelenkt zu werden. Schon für Pythagoras waren Zahlen die fundamentalen Ordnungsfaktoren des Kosmos. Und das, obwohl mathematische Symbole und Formeln nichts bedeuten, wie der Philosoph Ernst Kleinert schreibt: »Auf den ersten Blick mag paradox erscheinen, dass dieses mathematische Sprachspiel überhaupt funktioniert, sogar besser funktioniert als jedes andere in der bisherigen Geschichte, dass es überall verstanden wird und man sich überall über richtig und falsch einig ist, obwohl es nichts bedeutet.«

Mathematische Objekte, so schreibt er, sind Fiktionen: »Sie haben ihre Existenz allein im Gedacht- und Weitergedachtwerden, im Diskurs der Forschergemeinschaft.« Doch etwas in der echten Welt scheint diesen Fiktionen zu entsprechen: Wir können fünf Äpfel sehen, ein Brett abmessen, das einen Meter lang ist, oder fünf Brotlaibe durch sieben teilen. Die Mathematik ist so erfolgreich im Beschreiben und Modellieren der Welt, dass wir fast gezwungen sind anzunehmen, es muss etwas in der Wirklichkeit geben, außerhalb von uns, das ihr entspricht. Doch, so Kleinert, diese Annahme bleibt immer nur Arbeitshypothese: »Wie anders sollten wir denn weiterforschen?«

Letzter Halt

Im April 2022 erschien in der Zeitschrift Advances in Pure Mathematics ein Paper, das zeigte, dass nicht alle Zahlen durch wiederholtes Umkehren und Addieren ein Palindrom bilden – damit wäre die Existenz der Lychrel-Zahlen bewiesen. Der Beweis besteht aus drei Sätzen, die darin bewiesen werden: Zwei der drei Sätze scheinen korrekt zu sein, sagt Rostand Somwa Kuitché, der sich eingehend mit dem Paper beschäftigt hat. Doch der dritte Satz erscheint ihm mathematisch nicht ganz klar. Er bleibt skeptisch, dass das Rätsel um die Lychrel-Zahlen bereits gelöst ist.

Also setzt er sich weiterhin jeden Tag vor die Iterationsfunktion und versucht, die Eigenschaften der Lychrel-Zahlen zu kombinieren und einen Weg zu finden, wie sie zum Beweis ihrer Existenz führen könnten. Er sagt: »Ich darf die Hoffnung nicht verlieren. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber ich werde erst aufhören, wenn ich einen Beweis gefunden habe.«

Wade VanLandingham hielt einst den Rekord: weil sein Computer die kleinste Lychrel-Zahl, die 196, so oft umgedreht und addiert hatte, dass er eine Zahl mit 300 Millionen Stellen ausspuckte. Mittlerweile haben Computer die 196 billionenfach umgekehrt und addiert.

VanLandingham hat vieles davon nur am Rande mitbekommen. In der Zwischenzeit hat er gelernt, eine Spiele-Software für seine Enkelkinder zu schreiben, er war an Projekten zur Erforschung des Weltraums beteiligt, er spielt viel LEGO und renoviert ein Haus aus den 1930ern.

Seine Suche nach dem 196-Palindrom hörte im Jahr 2006 auf. Sechs Jahre lang hatte sein Computer immer größere Zahlen errechnet. Dann kam das Leben dazwischen: Mit seiner Familie zog er in eine neue Stadt. Für den Umzug baute er seinen Computer auseinander. Und er setzte ihn nie wieder zusammen.

Er schreibt: »Es ist so unwahrscheinlich, ein Palindrom zu finden, dass es bessere Dinge gibt, für die man Rechenkapazitäten verwenden kann als 196«. Er tippt ein lachendes Emoji.

Trotzdem wäre Wade VanLandingham glücklich, wenn jemand beweisen würde, dass die Lychrel-Zahlen existieren. So würde der Name, den er erfunden hat, noch länger verwendet. »Ich habe das Gefühl, dass ich einen winzig kleinen Beitrag zur Mathematik geleistet habe, der noch lange nach meinem Tod weiterleben wird«, schreibt er. »Ich freue mich schon darauf, wenn eines Tages meine Enkelkinder darüber unterrichtet werden.«

Erschienen am 13. Juni 2024

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