Der Geistervogel
Ein Hinweis auf seine Existenz wäre 10.000 Dollar Belohnung wert: Viele behaupten, den Südinsel-Kokako gesehen oder gehört zu haben. Auch der Ornithologe Rhys Buckingham sucht nach dem Vogel – seit nunmehr vier Jahrzehnten.
Rhys Buckingham verschwindet zwar nicht mehr monatelang im Busch, doch es ist nicht leicht, ihn am Telefon zu erwischen. Sein grauer Geist ruft ihn immer wieder zurück in den Regenwald – so nennt er den Südinsel-Kōkako, einen geheimnisvollen Vogel, der nur auf der Südinsel Neuseelands vorkommt. Buckingham ist Ornithologe, mittlerweile 76 Jahre alt und pensioniert. Er ist einer dieser Enthusiasten, die weiter versuchen, die letzten ihrer Art in der Wildnis aufzuspüren – Arten, die sich langsam zu Fabelwesen verwandeln. Er hofft dadurch, die Tiere vor dem Aussterben zu bewahren. Rhys Buckingham lässt die Suche nach diesem Vogel seit nunmehr 44 Jahren nicht los.
Der eindringliche Gesang des Kōkakos trägt zu seiner Legende bei: Ein Flöten wie durch einen Flaschenhals gehaucht, das weit durch den Regenwald hallt, so heißt es – wie ein Klagelied, um das Verschwinden seiner eigenen Spezies zu begleiten. »Es ist wie eine ganz andere Art Instrument im Orchester des Waldes«, beschreibt Buckingham die klaren Töne – von denen er meint, sie schon oft gehört zu haben. Nur eine Tonaufnahme ist ihm bislang nicht geglückt. Aber 1998, berichtet Buckingham begeistert, »spielte mir ein Holzfäller aus Charleston an der Westküste Neuseelands eine Tonaufnahme vor. Die klang glasklar nach Kōkako«.
10.000 Dollar für den Südinsel-Kōkako
Am Eingang des Abel-Tasman-Nationalparks hängt ein Fahndungsplakat: »Wanted« steht darauf – »preferably alive«. Darunter prangt das Bild eines grau-blauen Vogels mit orangefarbenen Lappen am Schnabel. 10.000 Neuseeländische Dollar gibt es für eine bestätigte Sichtung von Callaeas cinereus, dem Südinsel-Kōkako. An Hinweisen fehlt es nicht: Auf der Website des South Island Kōkako Charitable Trust, von dem das Poster stammt, finden sich 446 Meldungen seit 2017. Die Stiftung hatte Buckingham 2010 gegründet, zusammen mit seinen vogelbegeisterten Freunden Nigel Babbage und Ron Nilsson. Viele hielten den Südinsel-Kōkako damals schon für Geschichte. Denn es müsste eine überlebensfähige Population oder zumindest überhaupt einmal ein Brutpaar gefunden werden, um die Art retten zu können. Neuseelands Naturschutzbehörde – das Department of Conservation (DOC) – hat die Art deswegen 2007 für »possibly extinct« erklärt – möglicherweise ausgestorben.
Buckingham und seine Freunde waren anderer Meinung. Und eine Sichtung von 2007 überzeugte letztlich auch das DOC, dass es noch Hoffnung gibt. 2013 änderte die Behörde den Status des Südinsel-Kōkakos: Nun gilt er offiziell nicht mehr als »possibly extinct«, sondern als »data deficient« – es sind also zu wenige Daten bekannt. Um dieses Problem anzugehen, investierte Nigel Babbage vor sieben Jahren in einen Anreiz: Zusammen mit Sponsoren brachten sie 10.000 Dollar auf, um freiwillige Suchende mit ins Boot zu holen.
Hoffnung von der Nordinsel
Nur: Lässt sich ein weiterer menschgemachter Trauerfall für die Biodiversität durch ein paar Freiwillige verhindern? Der Chor der Waldvögel hat schon viele Stimmen eingebüßt: Seit der Ankunft des Menschen in Neuseeland vor 700 Jahren sind 56 Vogelarten ausgestorben.
Hoffnung macht die Geschichte der Kōkako-Schwesternart der Nordinsel Neuseelands: Der Nordinsel-Kōkako,Callaeas wilsoni, unterscheidet sich vor allem durch die Farbe der Lappen am Schnabel von seinem Verwandten auf der Südinsel; sie sind blau statt orangefarben. Auch er war am Rande des Aussterbens. Seine Geschichte zeigt, was die einheimischen Vögel bedroht: vom Menschen eingeführte Tierarten wie Ratten, Hermeline oder australische Possums. Sie gefährden etliche Vogelarten des Inselstaats, darunter auch den Kiwi oder den Kākāpō.
Doch die Geschichte des Nordinsel-Kōkakos zeigt auch, dass man Artensterben tatsächlich stoppen kann. Lebten in den 1990er Jahren weniger als 400 Vogelpaare auf der Insel, sind es heute mehr als 2.000. Bewahrt hat ihn in den letzten Jahrzehnten ein Projekt, das ein anderer Rhys betreut – Rhys Burns. Er arbeitet für das DOC. Er sagt: »Das wichtigste Instrument zum Schutz der einheimischen Vögel ist, die Räuber zu bekämpfen. Mit Fallen und Gift.«
Durch seine Arbeit hat Burns den Kōkako gut kennengelernt: »Er singt so, wie sein Name klingt – Koo-kaa-koo – und mit vielen Variationen«, erklärt er. »Der Ruf dient dazu, das Territorium zu verteidigen. Aber auch der Paarbindung: Männchen und Weibchen singen zusammen in einem ergreifenden Duett.«
Eine vielversprechende Meldung
Den Gesang des Nordinsel-Kōkakos will Rhys Buckingham nutzen, um die südliche Art hervorzulocken. Seine Suche konzentriert er seit einigen Jahren auf den Abel-Tasman-Nationalpark. Dort werden die Fressfeinde des Vogels intensiv bejagt. Die Ranger:innen vor Ort kennen Buckingham mittlerweile gut, diesen kauzigen, gut gelaunten Kerl, der von morgens früh bis abends spät mit Aufnahmegeräten und Fotoausrüstung durchs Dickicht streift. Sie beliefern ihn mit Nahrungspaketen, erzählt er dankbar. Regelmäßig lag er in den letzten Jahren im Regenwald auf der Lauer, zwischen Steineiben und Südbuchen, um mögliche Kōkako-Meldungen zu überprüfen. Er spielt dann Aufnahmen der Nordinsel-Art ab und hofft auf eine Antwort. »Viele Meldungen auf der Website erweisen sich als Verwechslungen«, erklärt Buckingham, »zum Beispiel mit dem Waldpapagei, dem Kākā«. Diese Tiere kopieren den Ruf des Kōkakos. »Aber diese eine Meldung von zwei Schweizer Reisenden, die bei mir ankam, die ist eine der besten, die wir in den letzten Jahren hatten!«, sagt Buckingham aufgeregt.
Die Schweizer:innen, von denen Buckingham spricht, Andreas und Nicole Honegger, verbrachten im Februar 2024 acht Wochen in Neuseeland. Einmal, auf einem Track zum Roberts Point nah am Franz-Josef-Gletscher, hüpfte vor ihnen ein grau-blauer Vogel durch das Blattwerk: etwa so groß wie eine Elster, mit orangefarbenen Lappen am Schnabel; sein Gesang tönte seltsam hohl und flötend durch den Wald. Erstaunlicherweise ähnelte er, so berichten die beiden am Telefon, dem Vogel auf dem »Wanted«-Poster, das sie zuvor gesehen hatten. Sie meldeten die Begegnung an den Kōkako-Trust. Andreas sagt, dass es ihm schwerfalle, den Ruf zu beschreiben: »Am ehesten erinnerte er mich an Walgesang«. Ob die Honeggers die Belohnung erhalten, entscheidet nun der Vorstand des Trusts, beraten von Expert:innen des DOC.
»Ein Foto oder Video, das würde alle überzeugen«, sagt Buckingham. Oder zumindest eine längere Audio-Sequenz seines orgelartigen Gesangs. Er hofft auf seine Kamerafallen: Seit 2019 stehen im Abel-Tasman-Park rund 40 Stück, die er regelmäßig kontrolliert. »So sammeln wir viele Foto- und Tondateien. Das Problem ist aber, dass sie ausgewertet werden müssen«, gibt er zu bedenken – und hofft auf eine KI-Erkennungssoftware des Mathematikers Stephen Marsland aus Wellington, die ihm schon bald dabei helfen soll. Auch seine DNS könnten den Vogel verraten – sofern er noch existiert. Erbgutreste lassen sich in der Natur wie an einem Tatort aufsammeln, auch von Vögeln: Die sogenannte environmental DNA findet sich zum Beispiel in Spinnweben. Forschende der University of Otago in Dunedin folgen nun dieser Fährte. Es grenzt an Ironie: Vielleicht wird es eine Methode aus der Forensik sein, die ein Lebenszeichen des grauen Geistes hervorbringt.
Erschienen am 5. September 2024
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