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Verändert Feinstaub unser Denken?

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Sabrina Graf

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Theresa Hügues

 

Kann Waldluft unser Gehirn verändern?

Unser Gehirn passt seine Struktur und Funktion der Umwelt an, in der wir uns bewegen. Welche Bedingungen braucht es, damit es ihm gut geht? Darauf wollen die Environmental Neurosciences Antworten finden. Ein Blick in eine neue Disziplin, die unser Verhältnis zur Umwelt messbar machen will.

Wenn Sonja Sudimac von ihrem Arbeitsplatz spricht, erzählt sie von Vogelgezwitscher und dem Summen von Bienen, von dem Geruch nach Harz. Am Rande Berlins, eingebettet in einen weitläufigen Garten, liegt das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB). Unter schattenspendenden Bäumen sitzen dort die Institutsmitglieder, machen Pause, essen oder arbeiten. Sonja Sudimac ist Postdoc am MPIB und erforscht, wie sich unsere Umwelt auf unser Gehirn auswirkt. Dazu gehören langfristige Umbauprozesse im Gehirn sowie kurzfristige Veränderungen, die unmittelbar nach einer Aktivität wie zum Beispiel einem Waldspaziergang passieren.

Sudimac sagt: »Unser Gehirn arbeitet nicht in einem Vakuum, wir sind in ständigem Kontakt mit anderen Menschen oder unserer Umgebung.« Diese Reize unserer Umwelt – egal ob es Natureindrücke sind oder urbane Stressfaktoren – beeinflussen die neuronale Plastizität, also wie sich unser Gehirn strukturell und funktionell anpassen und optimieren kann. Es gibt außerdem Hinweise dafür, dass die Natur Hirnfunktionen fördern und Stress reduzieren kann.

Aber wie viel Natur braucht der Mensch, damit es ihm mental gut geht? Was früher eine Gefühlssache war, ist heute zunehmend messbar: durch Environmental Neuroscience. 

Ein neuer Forschungszweig

Environmental Neuroscience ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das gerade erst entsteht und Erkenntnisse aus der Umweltpsychologie und der Neurowissenschaft verbindet. Während Wissenschaftler:innen das Individuum früher eher isoliert betrachteten, interessiert sich die Umweltneurowissenschaft heute besonders dafür, wie der Mensch in die physische Umwelt eingebettet ist. Die physische Umwelt meint die externe und materielle Umgebung, die wir sehen, hören, riechen und messen können, zum Beispiel Temperatur, Luftqualität oder Lärm. Das bezieht sich nicht nur auf natürliche Landschaften, sondern auch auf Menschengemachtes wie Gebäude und Infrastruktur. Als soziale Umwelt bezeichnet man im Gegensatz dazu zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftliche Strukturen. Die Environmental Neuroscience untersucht beides, legt den Fokus aber auf die physische Umwelt.

Der Sozialpsychologe Kurt Lewin beschrieb schon 1936, dass Umweltfaktoren einen Einfluss auf unser Verhalten haben. Er formulierte die Lewinsche Verhaltensformel: V = f (P, U) oder: Das Verhalten ist eine Funktion der Wechselbeziehung von Person und Umwelt.

Heute ist es ein zentrales Anliegen der Environmental Neuroscience, zu verstehen, wie sich die Straßen, Parks oder Büros, in denen wir uns täglich aufhalten, auf unser Gehirn auswirken. Auch Sonja Sudimac forscht dazu und konnte zeigen, dass nur eine Stunde in der Natur unsere stressbedingte Gehirnaktivität reduziert. Dafür mussten die 63 Teilnehmer:innen ihrer Studie erst einen Stresstest absolvieren: rechnen unter Zeitdruck. Um zusätzlich sozialen Stress auszulösen, poppte dabei der Hinweis auf, dass man langsamer rechne als der Durchschnitt.

Danach spazierten die Proband:innen durch den Grunewald oder durch eine belebte Berliner Einkaufsstraße. Die Aktivität der Amygdala, der Gehirnregion, die für Stressverarbeitung zuständig ist, nahm im Wald ab, wohingegen die stressbedingte Hirnaktivität in der Stadt konstant blieb. Die Teilnehmer:innen, die im Wald unterwegs waren, genossen ihren Spaziergang zudem mehr als jene in der Stadt.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Natur positiv auf das Gehirn und die Psyche auswirkt. Ärzt:innen verschreiben bei Stress oder Depression mittlerweile gezielt Zeit in der Natur. »Green prescriptions« sind in Großbritannien, Kanada und Neuseeland schon Teil staatlicher Gesundheitsprogramme.

Doch nicht jede Umwelt tut gut: Simone Kühn, die den Forschungsbereich Umweltneurowissenschaften am MPIB seit 2024 leitet, war an einer Studie zu den Auswirkungen extremer Umweltbedingungen beteiligt. Auf der Neumayer-Station III des Alfred-Wegener-Instituts in der Antarktis hat es bis zu minus 50 Grad, im Winter ist es fast vollständig dunkel und es gibt wenig Kontakt zur Außenwelt. Kühn untersuchte die Gehirne der Wissenschaftler:innen vor und nach der Polarexpedition. Sie fand heraus, dass das räumliche Denken sich nach dem Aufenthalt aufgrund der monotonen Umwelt und der physischen sowie der sozialen Isolation verschlechtert hatte.

Eine kurze Geschichte der Environmental Neuroscience

Die frühen Studien der Umweltneurowissenschaften begannen mit Nagetieren. 1949 fand der Neuropsychologe Donald O. Hebb heraus, dass Ratten, die in einer sogenannten angereicherten Umgebung aufwuchsen, schneller lernen als diejenigen in einem sterilen Käfig. Die angereicherte Umgebung war in diesem Fall Hebbs Wohnung. Hebb schrieb in seinem Buch The Organization of Behavior, dass er sieben Ratten zu sich nach Hause brachte und sie dort umherlaufen ließ.

William T. Greenough wiederholte den Versuch 1972 unter Laborbedingungen, indem er einen Teil der Käfige mit verschiedenen Objekten wie Laufrädern bestückte. Vorher und nachher führte er Messungen durch, die zeigten, dass die Ratten in der vielfältigeren Umgebung unter anderem mehr Synapsen und eine verbesserte Hirndurchblutung entwickelten. Das bedeutet, dass sie Informationen schneller verarbeiten konnten.

Diese frühen Verhaltensstudien zeigten, dass sich die Umwelt auf die Plastizität des Gehirns von Nagetieren auswirkt. Es folgten Untersuchungen mit männlichen Zebrafinken, deren Gehirnstruktur sich veränderte, wenn sie dem Gesang ihrer Artgenossen und musikalischen Tutoren lauschten.

Obwohl diese Tierstudien heute zum Teil aufgrund von Tierschutz und biologischen Sicherheitsbedenken nicht mehr erlaubt wären und sich nicht einfach auf den Menschen übertragen lassen, lehrten sie eines: Was wir sehen und hören, beeinflusst die Struktur und Funktion des Gehirns. Sie werfen die Frage auf: Wie wollen wir unsere eigene Umgebung heute so gestalten, dass wir uns auch morgen in ihr wohlfühlen?

Wie Forscher:innen dem Gehirn beim Denken zusehen

Heutzutage arbeiten Umweltneurowissenschaftler:innen wie Sonja Sudimac mit bildgebenden Methoden wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). Dabei misst man die Gehirnaktivität durch Veränderungen im Blutfluss. Auch die Wald- und Stadtspaziergänger:innen aus Sudimacs Studie wurden davor und danach in einem MRT-Scanner untersucht. Die Messungen legen nahe, dass die Hirnstruktur nicht so stabil und konstant ist wie angenommen, sie könne sich innerhalb weniger Stunden oder sogar Minuten verändern, sagt Sudimac.

Die Forscher:innen setzen auch auf virtuelle Realität, die noch unmittelbarer funktioniert. Mit VR-Brillen tauchen die Testpersonen in eine computergenerierte, virtuelle Umgebung ein. So wird eine künstliche Umwelt immersiv erfahrbar, hautnah spürbar und vor allem kontrolliert messbar. Einzelne Umweltfaktoren lassen sich im Virtual-Reality-Labor des MPIB isolieren und wissenschaftlich untersuchen. Denn es ist noch unklar, welcher Umweltfaktor genau gegen Stress hilft. Ist es die Farbe Grün, Wasserrauschen, Vogelzwitschern oder der Geruch von Harz? Wir wissen es nicht, so Sudimac. Das sei ein Grund gewesen, warum sie als Umweltneurowissenschaftlerin forschen wollte: »Ich habe immer gespürt, dass die Natur eine beruhigende Wirkung auf mich hat, aber niemand kann bisher beantworten, warum das so ist und welcher Umweltfaktor dafür ausschlaggebend ist.«

Eine weitere Methode soll helfen, einzelne Faktoren zu analysieren: die Georeferenzierung. Anhand einer konkreten Wohnadresse kann man die lokale Umwelt anhand von Landkarten und Satellitenbildern analysieren. So lässt sich etwa klären, wie hoch die Baumdichte ist oder die durchschnittliche Luftverschmutzung. Danach können die Wissenschaftler:innen überprüfen, ob bestimmte Umwelteinflüsse mit Veränderungen der Gehirnstruktur oder der mentalen Gesundheit der Proband:innen korrelieren.

Wie Urbanisierung und Klimawandel unsere Psyche beeinflussen 

Die Umwelt, in der wir uns bewegen, verändert sich rasant und unser Gehirn reagiert darauf. Ein Aspekt ist die zunehmende Urbanisierung der Welt. »Wir haben keine Ahnung, was das mit uns macht, wenn viele Menschen auf engem, dicht bebautem Raum mit nur wenigen Freiflächen zusammenleben«, sagt Sudimac. Klar ist, dass Angststörungen, Schizophrenie und Depression in Städten häufiger vorkommen.

Ein zweiter Aspekt, der die Environmental Neuroscience maßgeblich vorantreibt, ist der Klimawandel. Die Forschung hilft zu verstehen, wie sich Umweltstressoren wie Hitzewellen oder Luftverschmutzung neuronal und psychisch auf uns auswirken.  »Wenn wir genug Evidenz schaffen, können wir etwas verändern«, sagt Sudimac. Sie hofft, dass die Erkenntnisse der Forschenden eines Tages in politische Entscheidungen einfließen, etwa bei der Stadtplanung. In Städten brauche es beispielsweise mehr Grünflächen.

Die Postdoktorandin nutzt ihre Pausen jetzt schon, um im nahegelegenen Park spazieren zu gehen. »Ich mag aber vor allem blaue Zonen und es gibt Hinweise darauf, dass sie eine besonders positive Wirkung auf unsere Psyche haben«, sagt sie und meint damit, dass sie gerne an Flüssen entlangläuft oder an Teichen und Seen sitzt. Oder sie geht in den Garten des Max-Planck-Instituts. Dort könne man im Sommer Äpfel, Kirschen oder Himbeeren, im Herbst Quitten ernten. Und manchmal entdeckt sie einen Fuchs oder einen Hasen.

Erschienen am 5. Juni 2025

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