Wer hat den Cyborg erfunden?
Ein Ingenieur und ein Mediziner prägten 1960 den Begriff Cyborg. Ihre Vision: ein technisch optimierter Mensch, der selbst im Weltraum überlebt. Heute rückt die Technik dem Menschen immer näher auf oder sogar in den Leib. Was können wir aus den früheren Überlegungen lernen?
Lassen sich Menschen an ein Leben im Weltraum anpassen? Nicht durch Raumanzüge oder eine künstlich erschaffene, erdähnliche Atmosphäre in Raumschiffen. Sondern die Menschen selbst, ihre Körper? Dazu veröffentlichten ein Ingenieur und ein Mediziner einen wissenschaftlichen Aufsatz im Journal Astronautics, im Jahr 1960. Die Stimmung damals war geprägt von Sputnikschock, Space Race, Weltraumbegeisterung und Technikeuphorie auf beiden Seiten, im Westen und der Sowjetunion. Und da erschien dieser Text, in dem zum ersten Mal das Wort Cyborg auftaucht: Cyborgs and Space. Im Text imaginieren die beiden einen technisch ergänzten Raumfahrer (von Raumfahrerinnen ist nicht die Rede), der im Weltall langfristig überleben kann und mit Schwerelosigkeit, Strahlenbelastung und Sauerstoffmangel klarkommt.
Die Autoren Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline forschten beide am Rockland State Hospital, einer psychiatrischen Klinik nördlich von New York. Clynes wurde in Wien geboren, war vor den Nazis nach Australien geflohen und hat dort Musik und Ingenieurwissenschaften studiert. Später hat er in den USA in den Bereichen Neurophysiologie und Biokybernetik geforscht. Er war es auch, der eine besonders künstlerisch-kreative Sicht auf Cyborgs im Weltall hatte. Kurz vor Erscheinen des Aufsatzes sagte er dem Life-Magazin in einem Interview: »Stellen Sie sich vor, welche Sprünge eine Balletttänzerin auf dem Mond vollführen könnte.« Sein Kollege Nathan S. Kline war Forschungsdirektor, Mediziner und Experte für psychotrope Substanzen. Zunächst belächelte er die Wortneuschöpfung Cyborg, die sein Kollege Clynes ihm vorschlug, für ihn klang sie »wie eine Stadt in Dänemark«. So erzählte es Manfred Clynes in The Cyborg Handbook. Wie genau er auf den Namen kam, ist unklar, aber er setzt sich aus cybernetic und organism zusammen.
Die beiden Forscher hatten eine gemeinsame Vision. In Cyborgs and Space (deutscher Titel: Der Cyborg und der Weltraum) überlegten sie, wie man die bemannte Raumfahrt völlig neu gestalten könnte. Bisher steckten die Astronauten in Hüllen wie Raumkapseln, Sauerstoffhelmen oder Raumanzügen. Laut Clynes und Kline sei das gefährlich, »da wir uns so in die gleiche Situation bringen wie ein Fisch, der eine kleine Menge Wasser zum Leben an Land mitbringt«. Der Mensch mit dem Sauerstoffhelm ist also in seinen Möglichkeiten ähnlich begrenzt wie ein Fisch im Goldfischglas, bemerkt die Kulturwissenschaftlerin Dagmar Fink in ihrem Buch Cyborg werden: Der Fisch könne nur abgekapselt in seinem Glas leben und viel zu wenig das Land um ihn herum erkunden. Viel schlauer als in der ständigen Angst zu leben, dass das Glas zerbricht und man erstickt und stirbt, sei es doch, wenn ein besonders intelligenter und einfallsreicher Fisch ein technisches Instrument zur Lungenatmung entwickeln würde. Genauso stellten sich auch Clynes und Kline einen Astronauten vor, der durch biochemische, physiologische und elektronische Modifikationen im All überlebens- und handlungsfähig wäre – der erste Cyborg. Die Forscher hatten eine Idee entwickelt, die traditionelle Denkansätze ausklammert und der Menschheit völlig neue Möglichkeiten eröffnet, zumindest theoretisch.
Ein Cyborg oder cybernetic organism ist ein sich selbst regulierendes System, das möglichst harmonisch funktioniert, und in dem Mensch und Maschine reibungslos ineinandergreifen, so steht es im Handbuch Technikanthropologie, herausgegeben von der Technikhistorikerin Martina Heßler. Ein Mischwesen also, das sich aus organischen und technischen Bestandteilen zusammensetzt. Aber: Wo fängt ein Cyborg an? Eine Person, die Brille trägt oder auf dem Fahrrad sitzt, ist die bereits in Verbindung mit der Technik um sie herum – und damit ein Cyborg? Um zu verstehen, wo genau die Grenze liegt, hilft es, Dierk Spreen anzurufen. Er lehrt an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, ist Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr in München und Lehrbeauftragter im Studiengang Mensch-Technik-Interaktion an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Nur weil der Mensch Werkzeuge nutze, mache ihn das, laut Spreen, noch nicht zum Cyborg. Er müsse schon mit der Technologie verschmelzen, ein »intimes Funktionsverhältnis« und »ein erweitertes Leibsystem« bilden. Eine definitive Grenze gebe es nicht, der Cyborg-Begriff sei ein Kontinuum. Cyborgisierung bedeute aber, dass Technologie unter die Haut geht: »Irgendwo im Bereich der Hautgrenze, an oder unter der obersten Hautschicht findet die Verwandlung des Menschen in einen menschlichen Cyborg statt«, sagt Dierk Spreen.
Für Clynes und Kline ist ein Cyborg ein unbewusst funktionierendes, homöostatisches System. Das heißt, dass es sich selbst in einem stabilen und gesunden Zustand halten kann. So wie es beim Menschen auch der Fall ist, zum Beispiel durch das vegetative Nervensystem, die Körpertemperatur oder den Blutdruck. Das müsse unbedingt automatisch passieren, denn sonst sei der Mensch nur noch ein »Sklave der Maschine« und ständig damit beschäftigt, die eigenen Vitalwerte zu überwachen, Knöpfe zu drücken und Regler zu verschieben – ein DJ der eigenen Körperfunktionen. Wenn das gelinge, sei der Cyborg frei, »zu forschen, schöpferisch tätig zu sein, zu denken und zu fühlen«.
Der erste Cyborg-Organismus, in dem sich ein lebendiger Körper und eine künstliche Technologie verbanden, war aber nicht der eines Raumfahrers. Es war auch kein Science-Fiction-Monster, kein Terminator. Es war eine weiße Laborratte. Die Cyborg-Ratte war wahrscheinlich um 1955 als eine Art Pilotprojekt im Forschungslabor von Clynes und Kline entstanden und sollte zeigen, was bereits möglich ist. Den Rattenschwanz haben die Forscher durch eine osmotische Druckpumpe ersetzt, die in regelmäßigen Abständen Medikamente abgibt. Diese Minipumpe enthält eine halbdurchlässige Membran, durch die gleichmäßig die Substanzen freigesetzt werden. Die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway, die den Cyborg-Begriff groß machte, schrieb ebenfalls im Cyborg Handbook über das Foto des Cyborg-Ratten-Systems: »Dieses Foto gehört in das Familienalbum der Menschheit.«
Heutzutage gehe das eleganter, sagt Klaus Mainzer am Telefon. Mainzer ist Professor für Wissenschaftstheorie und Philosophie an der TU München und beschäftigt sich seit einem halben Jahrhundert mit den Grundlagen von KI und Robotik. »Heute muss man sich nicht mehr mit einer Pumpe herumschlagen«, sagt Mainzer. Sogenannte Depotpräparate wirken auch über einen längeren Zeitraum und setzen Medikamente zum Beispiel nach Herzinfarkten gezielt und regelmäßig im Körper frei. Er ist auch der Meinung, dass Cyborgs and Space eine gute Portion Fiktion und Ideologie beigemischt ist. Was Clynes und Kline schrieben, sei zwar Stand der Technik gewesen. Doch heute sei man etwas reservierter, wenn es darum gehe, einen neuen Weltraummenschen zu schaffen. »Der Mensch ist zu komplex, man kann ihn nicht wie ein Automobil behandeln und Einzelteile einfach austauschen.« Zwar ist das in der Medizin durch Prothesen längst der Fall. Aber die Cyborgisierung, wie sie den beiden vorschwebte, ist tiefgreifender und umfasst eine Vielzahl von Organen und Modifikationen.
Im Aufsatz deklinieren Clynes und Kline verschiedene menschliche Probleme, die durch ein neues Dasein als Cyborg gelöst werden könnten. Hier eine Auswahl: Ein Sensor misst die Strahlenbelastung und eine osmotische Pumpe injiziert dem Cyborg automatisch Medikamente, die ihn vor radioaktiver Strahlung im Weltall schützen. Um dem Problem des Nahrungsverbrauchs und des Stoffwechsels zu begegnen, wird die Körpertemperatur heruntergekühlt und der Körper so in einen künstlichen Winterschlaf versetzt. Ansonsten gilt: intravenöse Ernährung sowie Urin- und Fäkalrecycling. Im Körper des Cyborgs ist eine umgekehrte Brennstoffzelle verbaut, die durch Solar- oder Atomenergie betrieben wird und Lungenatmung überflüssig macht. Und was ist zu tun, wenn der Cyborg zwar technisch einwandfrei funktioniert, jedoch mit mentalen Problemen zu kämpfen hat? Da es im All langweilig und monoton werden könnte, raten Clynes und Kline zu sensorischen Reizen und sinnvollen Handlungsmöglichkeiten, um einen psychotischen Zusammenbruch zu verhindern. Sollte es dennoch zu einem psychotischen Zusammenbruch kommen, dann injiziert eine osmotische Notfallpumpe Drogen. Und wenn der kybernetische Organismus sich weigern sollte? Dann werden die Drogen durch Fernsteuerung von der Erde verabreicht.
All diese Probleme schienen den beiden Autoren von Cyborgs and Space lösbar. Auch wenn viele der vorgeschlagenen Technologien auch heute noch weit von einer realistischen Umsetzung entfernt sind – auf der Erde haben diese Ideen längst eine Ära eingeleitet, in der Technologie zunehmend als Erweiterung des menschlichen Körpers verstanden wird, in Form von Implantaten, Mikrochips oder Exoskeletten. Mit ihrem Text haben Clynes und Kline das Konzept der grenzenlosen Selbstoptimierung mitbegründet. Bis heute will der Mensch mithilfe von Technologien immer leistungsfähiger werden und schneller laufen, effektiver arbeiten, besser schlafen.
Menschen, die der Cyborgisierung heute schon ein Gesicht geben, sind der farbenblinde Neil Harbisson, der durch eine Antenne Farben hören kann. Oder Moon Ribas, die einen implantierten Chip in sich trägt, der vibriert, wenn es irgendwo auf der Welt zu einem Erdbeben kommt. Solche Cyborg-Tools werden längst nicht mehr nur aus medizinischen Gründen in den Körper integriert, wie etwa eine Armprothese. Sie dienen auch der Optimierung von menschlichen Fähigkeiten: Wir wollen mehr können als jemals zuvor. Die Cyborgisierung ist für Clynes und Kline der Beginn einer nicht-natürlichen, technischen Evolution, in der der Mensch seine Anpassung selbst steuern kann. »Doch vor diesem Hintergrund erscheint der natürliche Mensch als mangelhaft«, sagt Dierk Spreen. Kritisch werde es, wenn der Druck zur technischen Anpassung auf den Menschen so stark werde, dass man nicht mehr selbst über eigene Optimierungsprozesse entscheiden könne. Wenn man sich dazu gezwungen fühle, etwa, um auf dem Arbeitsmarkt mithalten zu können.
1970, zehn Jahre nachdem Cyborgs and Space erschienen ist, schrieb Manfred E. Clynes ein Sequel für das Astronautics-Journal: Cyborg II. Sentic Space Travel. Darin geht es um die emotionalen Bedürfnisse von Astronaut:innen im Weltraum, um Kreativität und darum, etwas Sinnvolles zu tun. Astronautics hat das Paper nie abgedruckt.
Erschienen am 13. Februar 2025
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