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Woraus besteht die Welt?

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Nina Beier

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Ian Andrews

Teilchenmalerei

Kunst und Teilchenphysik: Weiter könnten Disziplinen nicht auseinanderliegen, sagen die einen. Wir können uns gegenseitig inspirieren, sagen ein Künstler und ein Physiker. Eine Geschichte über eine überraschende Zusammenarbeit.

Es beginnt mit einem Zufall. Vor knapp zehn Jahren fertigt der Künstler Ian Andrews eine Reihe von Zeichnungen an: Linien und Punkte in weißer Tinte auf schwarzem Papier. Jemand erkennt darin Ähnlichkeiten zu den Bildern aus einer Blasenkammer – ein Apparat, der die unsichtbaren Bahnen geladener Teilchen sichtbar macht, indem er entlang ihrer Spur winzige Bläschen entstehen lässt. Zu diesem Zeitpunkt ahnt der Künstler noch nicht, dass dies der Startpunkt einer intensiven Auseinandersetzung mit der Teilchenphysik ist.

Der Künstler Ian Andrews bei der Arbeit: Er übersetzt Teilchenphysik in Kunst und macht so das Unsichtbare sichtbar.
Der Künstler Ian Andrews bei der Arbeit: Er übersetzt Teilchenphysik in Kunst und macht so das Unsichtbare sichtbar. Foto: Max Blake Andrews

Andrews – gerade auf Suche nach neuer Inspiration – besucht kurz darauf eine Veranstaltung, die Künstler:innen und Forschende der Universität Birmingham zusammenbringt. Dort hält auch Teilchenphysiker Kostas Nikolopoulos einen Vortrag. Er spricht über Elementarteilchen, die kleinsten Bausteine unseres Universums.

Manche der Teilchen – wie Elektronen und Quarks – bilden das Fundament aller Materie. Andere wirken als Vermittler der Kräfte zwischen ihnen. Und das Higgs erklärt, warum die übrigen Teilchen überhaupt eine Masse haben. Forschende beschleunigen Teilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit und lassen sie in riesigen Anlagen, sogenannten Teilchenbeschleunigern, kollidieren. Während dieser Kollisionen entstehen neue Teilchen, die oft in Sekundenbruchteilen wieder zerfallen. Doch aus den Zerfallsspuren gewinnen Physiker:innen wertvolle Einblicke in die Struktur unseres Universums.

Andrews ist fasziniert. »Wenn jemand vor dir steht und sagt: Das hier sind die fundamentalen Teilchen, die das Universum ausmachen – die Bausteine der Realität –, dann fragt man sich: Warum weiß ich als Mensch eigentlich so wenig darüber?«, erinnert sich der Künstler. »Ich musste einfach mehr darüber erfahren.«

Schnittstellen finden

Er sucht das Gespräch mit dem Teilchenphysiker Nikolopoulos. Schnell erkennen die beiden Parallelen zwischen ihren Disziplinen: Beide machen das Unsichtbare sichtbar. Während die Teilchenphysik das Verborgene im Innersten der Materie erforscht, lotet die abstrakte Kunst das Unsichtbare auf andere Weise aus: Sie übersetzt Gedanken, Emotionen, gesellschaftliche Strukturen oder metaphysische Konzepte ins Visuelle.

Aus dieser Erkenntnis entsteht ein Entschluss. Andrews will sich auf ein Künstler:innenprogramm bewerben, das Kunst und Wissenschaft verbindet. Um seine Idee zu schärfen, trifft er sich regelmäßig mit Nikolopoulos. Der Physiker sieht in dem Dialog zu Beginn vor allem eines: die Möglichkeit, Wissenschaft an die Öffentlichkeit zu vermitteln. Gemeinsam diskutieren sie über Kunst, Teilchenphysik und die Schnittstellen ihrer Welten.

Andrews’ Antrag wird abgelehnt.

Dennoch gehen die Gespräche zwischen Künstler und Physiker weiter. »Ich habe gemerkt, dass er wirklich lernen wollte«, erinnert sich Nikolopoulos. »Manchmal wollen Menschen einfach nur ein Label draufpacken, nach dem Motto ›Ich habe auch mal was mit Teilchenphysik oder Wissenschaft gemacht.‹ Aber man konnte richtig sehen, wie Ian auf das reagiert hat, was wir besprochen haben.«

Dabei ist der Anfang der Zusammenarbeit alles andere als einfach: Nikolopoulos will Andrews die Teilchenphysik mit mathematischen Formeln erklären, doch dem Künstler fehlt das nötige Vorwissen. Also erklärt ihm Nikolopoulos die Grundlagen der Teilchenphysik, organisiert Laborbesuche, stellt Andrews seine Kolleg:innen vor. Umgekehrt teilt Andrews seine Perspektive als Künstler, zeigt seine Arbeiten, zieht Vergleiche.

Skizzenbuch und Teilchendetektor

Eines Tages entsteht ein Vergleich, der hängen bleibt: das Skizzenbuch des Künstlers – und der Teilchenbeschleuniger des Physikers, der Collider. Beide sind zentrale Werkzeuge ihrer jeweiligen Disziplin. In beiden treffen Elemente aufeinander – teils heftig –, um zu prüfen, ob sich daraus Neues entwickeln lässt. »Mein Skizzenbuch macht eigentlich dasselbe wie der Teilchenbeschleuniger«, scherzt Andrews. »Nur ist es deutlich günstiger.« Statt Teilchen kollidieren im Skizzenbuch Materialien, Ideen, visuelle Konzepte. The Sketchbook and the Collider wird schließlich zum Titel ihres gemeinsamen Projekts.

In einem Buch des italienischen Physikers Enrico Fermi findet Andrews Zeichnungen, die ihm einen entscheiden Impuls geben: Muster und Linien, die die Spuren von Teilchen in Detektoren visualisieren, wenn diese miteinander wechselwirken oder zerfallen. Die wissenschaftlichen Zeichnungen, mit denen die Teilchen identifiziert werden sollen, erinnern Andrews an Skizzen des Bauhaus-Künstlers Paul Klee, in denen dieser die Linie als bewegtes Element im Raum erforscht. Klee verstand die Linie nicht als statisches Objekt, sondern als »einen Punkt, der spazieren geht« – die sichtbare Spur einer Bewegung.  »Man schaut auf diese beiden Dinge und denkt: Das ist zu ähnlich, um Zufall zu sein«, sagt Andrews.

Der Code

Der Künstler verändert seine Kunst radikal: Weg von großformatigen, materialreichen Installationen, zurück zu den elementaren Bausteinen der Kunst: Punkt, Linie und Fläche. Analog zur Teilchenphysik, bei der sich die Realität aus wenigen Grundbausteinen zusammensetzt, besinnt sich Andrews auf das Zeichnen als fundamentale Sprache der Kunst.

Mit seinen Arbeiten strebt Andrews danach, ein künstlerisches Pendant zur Teilchenphysik zu entwickeln – einen Code, der beide Disziplinen miteinander verknüpft. Dabei will er nicht einfach Teilchen illustrieren, sondern erschafft eine eigenständige künstlerische Parallelwelt: Beim Zeichnen lässt der Künstler seinen Stift mit Schablonen wechselwirken, so wie Physiker:innen Teilchen in Detektoren miteinander wechselwirken lassen, um mehr über sie zu erfahren.

Mithilfe von verschiedenen Materialien und Werkzeugen versucht Ian Andrews die Grundlagen der Teilchenphysik künstlerisch festzuhalten. In Zukunft will er sich auch weiter mit dem Thema beschäftigen, unter anderem auch mit der Suche nach Dunkler Materie.

Mithilfe von verschiedenen Materialien und Werkzeugen versucht Ian Andrews die Grundlagen der Teilchenphysik künstlerisch festzuhalten. In Zukunft will er sich auch weiter mit dem Thema beschäftigen, unter anderem auch mit der Suche nach Dunkler Materie.

Mithilfe von verschiedenen Materialien und Werkzeugen versucht Ian Andrews die Grundlagen der Teilchenphysik künstlerisch festzuhalten. In Zukunft will er sich auch weiter mit dem Thema beschäftigen, unter anderem auch mit der Suche nach Dunkler Materie.

Mithilfe von verschiedenen Materialien und Werkzeugen versucht Ian Andrews die Grundlagen der Teilchenphysik künstlerisch festzuhalten. In Zukunft will er sich auch weiter mit dem Thema beschäftigen, unter anderem auch mit der Suche nach Dunkler Materie.

Mithilfe von verschiedenen Materialien und Werkzeugen versucht Ian Andrews die Grundlagen der Teilchenphysik künstlerisch festzuhalten. In Zukunft will er sich auch weiter mit dem Thema beschäftigen, unter anderem auch mit der Suche nach Dunkler Materie.

Im Dialog stoßen Künstler und Physiker immer wieder auf Parallelen: Etwa das Konzept des »Feldes«, das in beiden Disziplinen zentral ist. In der Teilchenphysik basiert die führende Theorie, das sogenannte Standardmodell, auf der Vorstellung eines allgegenwärtigen Quantenfeldes, das die Grundlage für die Bausteine unseres Universums bildet. Wie ein unsichtbares, unruhiges Meer, aus dem Teilchen als Wellen hervortreten – so könnte man sich das Quantenfeld vorstellen. In der Kunst hingegen steht das Feld für die Bildfläche oder räumliche Struktur.  Auch positiv und negativ geladene Teilchen finden ihr Pendant in der Kunst: Positivformen – das, was dargestellt ist – und Negativformen, der Raum dazwischen und darum herum.

Andrews’ rigorose Suche nach einem Code zwischen den zwei Welten überzeugt auch den Physiker: »Ich war immer ein bisschen besorgt, weil man nichts Falsches darstellen will. Aber Ian hat die Messlatte für sich selbst sogar noch höher gelegt, als ich es erwartet hätte«, sagt Nikolopoulos.

Wie sehr die beiden sich gegenseitig geprägt haben, wird im Gespräch schnell deutlich: Andrews spricht wie selbstverständlich über physikalische Konzepte wie das allgegenwärtige Quantenfeld, während Nikolopoulos Begriffe aus der Kunst verwendet – etwa die »Grundierung«, mit der sich ein Malgrund auf die spätere Farbgebung vorbereiten lässt.

Mit wachsendem Wissen über Teilchenphysik wandeln sich die Werke des Künstlers. Er erweitert seine Materialpalette, verwendet neben Tinte zum Beispiel auch Graphit. Dessen raue, körnige Struktur erinnert an die Idee eines »Quantenschaums« – eine Theorie des Physikers John Wheeler, nach der die Raumzeit bei genauer Betrachtung schaumartig und unruhig ist. Es entstehen auch dreidimensionale Arbeiten wie meterlange Papierbahnen, die sich im Raum winden, und Filme mit abrupten Schnitten – so sprunghaft wie die Quantenwelt selbst.

»Die Werke lösen auf ganz unterschiedliche Weise bei den Menschen etwas aus«, sagt Nikolopoulos. »Ich habe keine feste Theorie dazu – aber genau so funktioniert Kunst eben.«

Inspiration für junge Menschen

Das Projekt The Sketchbook and the Collider umfasst neben Andrews’ Werken auch Workshops für junge Menschen. Nach einer theoretischen Einführung in Teilchenphysik und Kunst folgen Übungen: Etwa mit einem Gummiband zu zeichnen – analog zur starken Kraft, die die Teilchen im Inneren des Atomkerns zusammenhält. Oder auch eine Schattenspiel-Performance, bei der die Teilnehmenden selbst zu Teilchen werden, deren Schatten sich anziehen oder abstoßen – und so das Wechselspiel sichtbar machen.

»Die Schülerinnen und Schüler hätten vorher nie gewusst, was Performancekunst ist – und plötzlich gestalten sie selbst eine, sogar zu einem so komplexen Thema wie Quantenmechanik«, sagt Andrews. Sein Ziel: »Wenn sie einfach nur neugierig sind, wie die Dinge funktionieren, dann ist meine Arbeit getan.«

Im Rahmen des Projekts The Sketchbook and the Collider bietet Andrews auch Workshops an: Hier können sich Schüler:innen künstlerisch der Welt der Teilchenphysik annähern und experimentieren.
Im Rahmen des Projekts The Sketchbook and the Collider bietet Andrews auch Workshops an: Hier können sich Schüler:innen künstlerisch der Welt der Teilchenphysik annähern und experimentieren.

Gemeinsame Reise ins Unbekannte

Seit Beginn ihres Projekts im Jahr 2016 haben Ian Andrews und Kostas Nikolopoulos rund 20 Ausstellungen und über 40 Workshops realisiert. Ein Ende der Zusammenarbeit ist nicht in Sicht. »Was könnte erfüllender sein, als durch den künstlerischen Prozess zu ergründen, wie Realität entsteht, woraus sie besteht und wie diese Elemente miteinander interagieren, um unsere Wirklichkeit zu formen?«, sagt Andrews. »Wenn man einmal diesen Weg eingeschlagen hat, gibt es kein Zurück.«

Das Projekt hat nicht nur Andrews’ Kunst, sondern auch Nikolopoulos’ Blick auf die Wissenschaft verändert. »In der Wissenschaft versuchen wir, sehr robust und mathematisch zu arbeiten. Und wir neigen dazu, das, was wir tun, nicht mit Kreativität in Verbindung zu bringen – vielleicht, weil es dadurch etwas weniger rigoros erscheint «, sagt er. »Aber durch dieses Projekt habe ich zu schätzen gelernt, wie viel Kreativität auch in der Wissenschaft steckt.«

Und dieser Prozess ist weiterhin im Wandel: Mittlerweile sehen sich die beiden seltener als früher, meist nur online. Auch die Themen des Projekts haben sich weiterentwickelt: von den Grundlagen der Teilchenphysik hin zur Suche nach Dunkler Materie. »Wir sind mit dem gestartet, was wir wissen«, sagt Nikolopoulos, »und jetzt bewegen wir uns in Bereiche, von denen wir wissen, dass wir sie nicht kennen.« Und Andrews ergänzt: »Ich brauche wohl mehr Stifte.«

Erschienen am 3. Juli 2025

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