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Wem gehört der See?

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Bernd Eberhart

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Lenni Baier

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Brigitte und Joachim Eberhart

Der schönste Ort der Welt

Ein Paradies aus Sonne, Wasser und Matsch, so erinnert sich unser Autor an den See seiner Kindheit. Heute fragt er sich: Was macht diesen Ort so besonders, für Mensch, Tier, Pflanze, die ganze Vielfalt des Lebens? Gehen wir auf einen Streifzug.

Das Tollste am See war der Matsch. Dicker, brauner Schlamm am Grund, bei jedem Schritt bin ich eingesunken, langsam ist er mir durch die Zehen geflutscht und hat dabei dieses verrückte Zwischendrin-Gefühl ausgelöst: irgendwo zwischen lustig und panisch, zwischen stehen können und versinken und für immer feststecken. Eklig und spannend, genau richtig für uns Dorfkinder. Algenblüte, Eutrophierung, Nitratbelastung, davon wussten wir nichts und das war ja auch total egal. Man ist einfach getaucht und hat zwei Hände voll wunderbaren Matsch ausgebaggert. Matsch im Gesicht, Matsch auf dem Kopf, Matsch-Bilder auf braungebranntem Rücken. Eine wilde Matsch-Schlacht: Wer war wohl dabei, Juse wahrscheinlich und Peter, auf jeden Fall Clemens und Matze. Weil Matze Clemens eine Ladung Schlamm direkt ins Auge geschleudert hat. Vielleicht war es auch andersrum, oder habe ich selber geworfen? Jedenfalls hat der Matsch im Auge eine dicke Bindehautentzündung verursacht. Clemens, oder Matze, ist dann tagelang mit einem roten Auge rumgelaufen und unsere Eltern haben uns ermahnt, wir sollen auf gar keinen Fall mit Schlamm schmeißen.

An den See habe ich viele Erinnerungen. Und wirklich, ich überlege jetzt schon lang, alle sind sie gut: warm und sonnig und unbeschwert oder eiskalt, winterweiß. Klar, Erinnerungen sind beschönigt und lückenhaft und verdreht. Aber irgendwie muss schon was dran sein an diesem Ort. Aber was? Was macht den See besonders? Für mich persönlich, aber auch für andere Menschen, Tiere, Pflanzen? Denn klar ist: Im See gibt es nicht nur Matsch. Er ist unverzichtbare Heimat für eine ganze Reihe von Lebewesen. Welche Bedeutung also hat der See für die ganze Biodiversität? Wer darf hier sein, wer soll hier sein? Wem gehört der See?

Der See hat natürlich einen Namen: Starkholzbacher See. Er liegt im Hohenloher Land in Baden-Württemberg, zwischen Hügeln und Feldern im winzigen Örtchen Starkholzbach. Oft heißt der See auch »Starki«, aber bei uns war er meistens einfach der See. Für mich ist er einer der schönsten Orte der Welt. Dabei ist er wirklich kein außergewöhnlicher See, er ist nicht außergewöhnlich naturnah, sauber oder groß, tatsächlich ist er streng genommen noch nicht einmal ein See: Offenbar unterscheidet die Wissenschaft zwischen Weiher, Teich und See. François-Alphonse Forel, schweizerischer Naturforscher und Begründer der Limnologie, also der Seenkunde, definierte: »Ein Weiher ist ein See ohne Tiefe.« Das sind selten mehr als zwei, allerhöchstens aber fünf Meter Tiefe, so also, dass am gesamten Grund genug Licht ankommt, um Pflanzenwachstum zu ermöglichen. Der Starkholzbacher See wäre also ein Weiher. Wenn er nicht vom Menschen angelegt wäre: Im 15. Jahrhundert stauten Mönche für eine Fischzucht erstmals den Brunnenwiesenbach auf. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Mönche wohl die Lust am Fischen verloren, der See war verschwunden. Für die Wiederbelebung des Sees als Naherholungsmöglichkeit im Jahr 1972 musste der Bach also wieder künstlich gestaut werden. Und ein Weiher, der nicht natürlich entstanden ist, der durch Öffnen einer Schleuse einfach abgelassen werden kann, ist ein Teich. Weil aber sogar der Gewässerökologe Thomas Mehner, der am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin zu Kleingewässern forscht, mit den Begriffen ganz durcheinanderkommt – Weiher, Tümpel, Teich, See, Pfuhl – und sagt: »See ist, wenn man drin schwimmen kann«, und weil »Starkholzbacher Teich« wirklich nicht einladend klingt, bleibt er hier und überall einfach: der See.

Im Englischen scheint der Begriff pond allgemeingültiger zu sein, zudem lädt er zu einem wundervollen Wortspiel ein: Ponderful hieß tatsächlich ein EU-weites Forschungsprojekt im Rahmen des Horizon 2020-Programms, an dem Thomas Mehner als einer von vielen mitgewirkt hat. Ponds – also Seen, Weiher, Tümpel et cetera – seien in ihrer Rolle für Biodiversität und deren Erhalt stark vernachlässigt und unterschätzt, heißt es auf der Projekt-Homepage.

Auch wir Kinder hatten am See wenig übrig für Flora und Fauna. Oder genauer: Wir haben das ganze Grün, die Blüten, das Gesumme und Gezwitscher wohl einfach als selbstverständlichen Teil des See-Erlebnispakets hingenommen. Sicher, ohne das alles wäre niemand von uns auf die Idee gekommen, zum See zu radeln, zu einem tristen, toten Matschloch. Aber Kinder sagen eben nicht: »Dort, Natrix natrix, die Ringelnatter, wie man am hellen Halbmond am Hinterkopf erkennt, sie ernährt sich hauptsächlich von Froschlurchen und schwimmt sehr gut.« Kinder genießen die Wunder der Natur intuitiver: »Boah, eine Wasserschlange, die beißt dich gleich in Arsch!« Der See war damals in Sekundenschnelle wie leergefegt, die langsameren Kinder kraulten noch um ihr Leben, wir standen feixend und fasziniert am Ufer. Die Ringelnatter war unbeeindruckt, elegant und erstaunlich schnell schlängelte sie sich durchs Wasser.

Flache Gewässer mit ihren vielen Wasserpflanzen sind wahre Hotspots der Artenvielfalt. Die Pflanzen bieten Tieren nicht nur Nahrung, sondern auch Verstecke und Möglichkeiten zur Eiablage. Und bei der Fotosynthese setzen sie große Mengen an Sauerstoff im Wasser frei. Übrigens funktioniert das sogar dann, wenn der See zugefroren ist, zumindest wenn genug Licht durchs Eis dringt. Darum sitzen luftatmende Wasserinsekten im Winter an Wasserpflanzen wie Tannenwedel oder Tausendblatt, wenn das Eis ihnen den Weg an die Oberfläche versperrt. Und flugfähige Insekten, Ruderwanzen oder Wasserkäfer etwa, fliegen im Herbst oft weite Strecken, bis sie ein üppig bewachsenes Gewässer finden.

Wie viele angelegte Seen liegt auch der Starki mitten im Kulturland: Meistens tuckert irgendwo ein Trecker über die Felder rings um den See. An einem Tag im Frühjahr 2025 sehe ich keinen Trecker. Aber ich spaziere über eine frisch mit Mist gedüngte Wiese, keine 30 Meter vom Seeufer entfernt, der Brunnenwiesenbach schiebt gelbweiße Schaumkrönchen herum. Wo gedüngt wird, werden immer auch Nährstoffe ausgewaschen. Und was Mais und Weizen wachsen lässt, lässt auch Wasserpflanzen und Phytoplankton, also schwebende Mini-Algen, in Massen gedeihen – man spricht von Eutrophierung. Wenn die Pflanzen absterben, sinken sie auf den Grund, sie verfaulen, werden zu Matsch. Beziehungsweise zu Mudde, wie das in Fachsprache eigentlich heißt, ein Begriff, der auch das sinnliche Phänomen viel treffender beschreibt: Mudde. »Dadurch können Gewässer auch beträchtliche Kohlenstoffsenken sein«, erklärt Thomas Mehner: Im Seematsch ist also eine Menge CO2 gebunden, das die Pflanzen zuvor der Atmosphäre entnommen haben.

Die meisten Menschen ab einem gewissen Alter finden Matsch aber nicht mehr spannend, sondern nur noch eklig. Auch darum wurde der Starkholzbacher See im Winter 2008 komplett abgelassen und ausgebaggert. Der Landschaftsarchitekt Ferdinand Gärtling nennt das »mechanisches Entfernen der Sedimente«, er ist bei der Stadt Schwäbisch Hall unter anderem für die Gewässerentwicklung zuständig. »Für den Nährstoffkreislauf im See ist das positiv«, erklärt der Gewässerökologe Thomas Mehner. Mit dem Schlamm wird auch die Eutrophierung herausgebaggert, ein großer Teil der überschüssigen Nährstoffe also. Allerdings ist auch die Kohlenstoffsenke dahin, alles verpufft wieder in die Atmosphäre, zumindest wenn der Schlamm so gelagert wird, dass Bakterien den Kohlenstoff abbauen können. Die Fische übrigens, die fischen die Leute vom Fischzuchtverein vor dem Ablassen aus dem Starkholzbacher See heraus, jene Fische also – Weißfische, Karpfen, Hecht und Zander – die sie extra in den See hineingesetzt hatten, um sie später wieder herauszuangeln.

Als Kind wurde mir nur einmal bewusst, dass es Fische gibt im See, und zwar, als ein dicker Karpfen im Eis eingefroren war. Früher war der See oft wochenlang zugefroren, wir sind mit Schlittschuhen und Hockeyschlägern übers Eis gesaust. In diesem Winter hat uns der Karpfen dabei mit seinem starren Auge angeglotzt, furchtbar.

Lässt man einen See in Ruhe, auch einen von Menschenhand geschaffenen, wird er immer natürlicher. »Gewässer brauchen Zeit«, sagt Thomas Mehner, ein komplexes Ökosystem pendelt sich über Jahre hinweg ein. Aber ein Teich wie der Starkholzbacher See, so ein aufgestauter Feld- und Wiesenbach, würde ohne Ausbaggern und sonstige Maßnahmen auf Dauer eben gar nicht funktionieren. Die Erosion auf den Feldern, dadurch eingespültes Sediment und die zu Schlamm werdenden Algen lassen ihn irgendwann verlanden. Es braucht also einen Kompromiss zwischen Tier, Pflanze und dem nach Naherholung suchenden Menschen. »Ob künstlich oder nicht, Wasser ist wichtig«, sagt Mehner. »Sogar ein naturnaher Gartenteich ist wertvoll.« Als Lebensraum und auch als Trittstein für verschiedene Tier- und Pflanzenarten bis zum nächsten geeigneten Biotop.

Wenn ein See aber im Sommer scharenweise von Badenden heimgesucht wird, was passiert dann mit der Natur? Mit den Pflanzen etwa? Das hat Nora Meyer von der Technischen Universität Dresden in ihrer Doktorarbeit erforscht. Einen Sommer lang hat sie jedes zweite Wochenende im Naturpark Dahme-Heideseen verbracht. Sie hat dort zehn verschiedene Badestellen untersucht und jeweils mit ungestörten Stellen verglichen. Um herauszufinden, wie stark die Badegäste aus dem nahen Berlin an den Wochenenden die Pflanzen zertrampeln, hat sie unter anderem Laserscanner aufgestellt, mit denen sie die Vegetation im Umfeld millimetergenau messen konnte. Was gar keine so gute Idee war: Denn an Brandenburger Seen gibt es viele Nackige, und die waren nicht begeistert von den Scannern. »Das sieht man schon alles auf den Bildern«, erzählt Meyer. Ihre Messungen musste sie dann immer nachts machen.

Meyers Fazit: »Ja, es gibt Veränderungen durch menschliche Nutzung«, sagt sie. »An den Badeseen haben wir schon eine reduzierte Biodiversität gesehen im Vergleich zu den Kontrollstellen. Aber die Effekte waren nicht gravierend.« Sie findet: »Baden ist in Ordnung.« Mensch und Pflanze, Spaß und Natur kann funktionieren, solange es der Mensch nicht übertreibt. Man müsse nur vermeiden, sagt Nora Meyer, dass die Leute durch Ufervegetation und Röhricht trampeln und immer neue Badestellen schaffen.

Auch am Starkholzbacher See sind Schutzzonen ausgeschildert: »Biotopbereich. Betreten verboten!« Im Wasser trennen seit ein paar Jahren Bojen den Badebereich von der geschützten Wasserfläche ab. Bei meinem Besuch im März sehe ich ein paar Blesshühner auf dem Wasser dümpeln, Gänse fliegen auf, einträchtig paddelt ein Schwanenpaar herum. »Die große Wasserfläche ist eine Anlaufstelle für Vögel«, sagt Ferdinand Gärtling von der Stadtverwaltung. »Wasser bedeutet Schutz vor Fressfeinden.« Jetzt im Frühjahr machen auch Zugvögel Rast am See, erklärt er, zum Beispiel die Bekassine, also die Sumpfschnepfe, mit ihrem verrückt langen Schnabel. Rund um den See sind Weiden und Erlen gefällt, es sieht wüst aus, grobe Holzschnitze liegen in Haufen herum: der Biber. Im Brunnenwiesenbach hat er gleich mehrere Dämme gebaut. Nicht alle Landwirte und Angler seien darüber glücklich, sagt Gärtling. »Mittelfristig wird die Population wohl wachsen.« Man müsse den Biber schon im Auge behalten, erklärt er, aber er klingt zuversichtlich, dass ein Miteinander gelingt.

Das ist ja das Schöne. Der See gehört allen. Es gibt wohl kaum einen demokratischeren Ort: kein Eintritt, keine Kontrollen, Platz für alle, jung, alt, multikulturell, Mensch, Tier, Pflanze. An einem sonnigen Sommertag können schon mal 1.200 Badegäste am Starkholzbacher See sein, berichtet Ferdinand Gärtling. Thomas Mehner, der Gewässerökologe, sagt: »Mensch und Natur sind kein Gegensatz, sondern eine Einheit. Dafür braucht die Natur einen Bezug zum Menschen, und andersrum.« Gerade das Baden habe kulturell sehr hohe Bedeutung. Und ein See, der sei nicht nur Ort der Erholung, sondern auch der Naturerfahrung, Bildung und Integration.

Ja, der Mensch zerstört die Natur in katastrophalem Ausmaß. Aber er kann auch koexistieren, er kann bewahren und er kann sogar ganz neue Biotope erschaffen, wenn er will. Wir alle haben die Wahl. Es kommt wohl darauf an, was wir kennen, was wir begreifen und was uns wichtig ist.

An einem Samstagmorgen im Frühjahr haben sich gut 20 Leute am See versammelt, der Freundeskreis Starkholzbacher See veranstaltet die jährliche See-Putzete. Eimer, Müllsäcke, Müllgreifer werden verteilt. Wir klauben Bierflaschen aus den Büschen und einen halben Volleyball, eine Capri-Sonne-Tüte, die noch nicht Capri-Sun heißt, Plastiktüten mit Hundekacke drin, einen kaputten Federball und eine überraschend große Teichmuschelschale. Es ist windig, kleine Wellen kräuseln die Wasseroberfläche des Sees, das Schilf rauscht leise.

Am eifrigsten sammeln die Kinder. Schon eklig, das ganze Zeug, aber auch spannend. Schlittschuh gefahren sind sie diesen Winter nicht auf dem See, zu warm. Im Sommer gehen sie aber wieder baden. Hoffentlich sehen sie eine Wasserschlange.

Erschienen am 8. Mai 2025

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