Antworten auf alle möglichen Fragen, Katzenvideos, Fotos aus fernsten Regionen: Im Internet ist alles einfach da und irgendwie kommt es zu uns. Irgendwie? Nein. Dahinter stecken tausende Tonnen Metall und Kunststoff. Drei Studentinnen machen sie greifbar – mit dem BROCKEN.

 

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Maike Gebker, Anna Eckl und Eva Eiling sind Gestalterinnen und studieren Transformation Design in Braunschweig. Sie untersuchen sozial-ökologische Veränderungsprozesse und gestalten den Weg hin zu wünschenswerten Zukünften.

Wir tippen »wikipedia.org« und in Sekundenschnelle öffnet sich ein Portal, das Antworten auf alle möglichen Fragen liefert. Antworten aus dem Nichts, so scheint es. Doch wir haben eine Frage, bei der nicht einmal Wikipedia weiterweiß: Wie kommen all die Antworten zu uns, die auf Servern auf anderen Kontinenten stehen? Die Informationen fliegen ja nicht einfach durch die Luft. Oder, genauer gefragt: Wie viel Infrastruktur, wie viel Material, wie viel Metall, Plastik, Glasfaser steckt denn hinter diesen immateriellen Antworten, hinter diesem gefühlten Nichts? Seit wir uns diese Fragen stellen, lässt uns das Nichts, das wir ständig nutzen, nicht mehr in Ruhe.

Wir, das sind Anna, Eva und Maike – drei Gestalterinnen im Masterstudium Transformation Design in Braunschweig. Ein Semester lang wollten wir die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des Internets hinterfragen.

Was steckt hinter der Fassade unseres Bildschirms?

Das Internet verspricht, weniger Ressourcen zu verbrauchen, indem es analoge Welten zunehmend digitalisiert. Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit. »Dematerialisierung« heißt dieses Märchen, an das alle glauben möchten. Doch selbst wenn es nicht so scheint: Auch die digitale Welt muss auf materiellen Ressourcen basieren. Wir wollten wissen, was hinter der Fassade unserer Bildschirme steckt und fragten uns, welches Ausmaß die Materialität hat, die unsere weltweit vernetzte Infrastruktur tatsächlich ermöglicht.

Wir wollten herausfinden, was sich hinter dem Märchen des digitalen Nichts verbirgt. Bald stießen wir auf eine riesige Wolke voller Information – und voller Intransparenz – und das schon beim Versuch, überhaupt den Weg unserer Suchanfrage nachzuverfolgen. Erst als wir das Programm Traceroute fanden, begannen wir ihn zu verstehen. Es macht die verwendeten Knotenpunkte des Internets nachvollziehbar. Wenn wir also beispielsweise »wikipedia.org« aufrufen, müssen die verschickten Datenpakete über 9.590 Kilometer weit reisen: Von unserem Router in Braunschweig über Kassel nach Amsterdam und von dort aus durch ein etwa 7.000 Kilometer langes Unterseekabel, quer durch den Atlantik nach New York zur Landing Station – das ist der Punkt, an dem das Unterseekabel an das Netzwerk an Land andockt – und dann weiter zur Wikimedia Foundation in Kansas. Das ganze Ausmaß des World Wide Web konnten wir dann durch die Submarine Cable Map begreifen – eine interaktive Karte, auf der die weltweit verlegten Unterseekabel eingezeichnet sind: Über 900.000 Kilometer Unterseekabel vernetzen wortwörtlich unsere Welt. Sie bestehen aus Glasfasern, Kupfer, Stahl, massenweise Kunststoff und weiteren, seltenen Rohstoffen. Eine ganze Menge Material für etwas, das wir für Nichts gehalten hatten.

Mehr als 900.000 Kilometer Unterseekabel vernetzen die Welt. Wo sie verlegt sind, zeigt die Submarine Cable Map. Bild: submarinecablemap.com

Eine Wikipedia-Anfrage braucht: 72.677 Tonnen Material, davon sind 42 Tonnen Glasfaser, 1.179 Tonnen Kupfer, 64.715 Tonnen Stahl, jede Menge Kunststoff.

Doch welches und wie viel Material nutzen wir nun genau, wenn wir »wikipedia.org« aufrufen? Schnell stießen wir dabei an unsere Grenzen: Nirgendwo fanden wir Informationen zur Menge der verbauten Materialien, welche Kabel und welche Wege zurückgelegt werden und welche zusätzlichen Ressourcen der Erhalt der Infrastruktur erfordert. Wir konnten nur schätzen, sahen uns aber umso mehr in unserem Vorhaben bestätigt: mehr Transparenz zu schaffen. Mit Blick auf die Submarine Cable Map nahmen wir an, dass unsere Datenpakete sehr wahrscheinlich durch das Kabel Atlantic Crossing 1 (AC-1) übertragen wurden. Wir machten uns also daran, die Produktkataloge verschiedener Unterseekabelhersteller zu wälzen, so die Anteile der verbauten Materialien zu rekonstruieren und ihre Masse hochzurechnen auf die zurückgelegte Strecke von etwa 7.000 Kilometern. Für unsere Wikipedia-Anfrage kamen wir so auf einen gewaltigen Materialaufwand: etwa 72.677 Tonnen, aufgeteilt in 42 Tonnen Glasfaser, 1.179 Tonnen Kupfer, 64.715 Tonnen Stahl sowie eine Menge an verschiedenen Kunststoffen. Dabei noch nicht eingerechnet sind die menschengroßen Repeater, die alle 70 Kilometer die Signale der Unterseekabel verstärken, der Ressourcenaufwand für die Gebäude der Landing Stations und die gesamte Infrastruktur an Land. Häufig werden gleich mehrere Unterseekabel entlang der gleichen Strecke verlegt und zudem sind Schiffe präventiv im Einsatz, um einen möglichen Ausfall schnell ausgleichen zu können. Das erfordert noch eine weitere unbekannte Menge an Material.

Der BROCKEN verkörpert all die Materialien, die das Surfen im Internet beansprucht und macht sie sichtbar.

Wir konnten uns nun ansatzweise vorstellen, welcher Materialaufwand hinter jeder noch so kleinen Suchanfrage steht und welche wertvollen, endlichen Rohstoffe dies erfordert. Um diese unsichtbaren Materialien der digitalen Welt auch für andere erfahrbar zu machen, gestalteten wir den BROCKEN – ein digitales, dreidimensionales Volumen, das an ein Gestein erinnert. Er verkörpert die für die Nutzer:innen unsichtbaren Materialien, die das Surfen im Internet beansprucht. Als Plug-in kann der persönliche BROCKEN in das eigene Browserfenster integriert werden und so einen Berührungspunkt zwischen den verborgenen Materialien, der digitalen Welt und dem Nutzer ermöglichen. Die Basis seines Körpers bilden Netzdiagramme, die durch die gesendeten Datenpakete einzelner Internetaktivitäten gezeichnet werden. In geringem Abstand geschichtet, bauen sie so das Gesamtvolumen des individuellen BROCKENS auf. Das Streamen von Filmen beispielsweise trägt zu einem starken Anwachsen der Form bei, denn je größer die Datenpakete, desto voluminöser wird auch der BROCKEN. Eine Legende entschlüsselt die verwendeten primären Rohstoffe wie Kupfer, Stahl und Glas, vermittelt aber auch sekundäre Informationen, wie Energieverbrauch und emittiertes CO2.

Die Basis des BROCKEN-Körpers bilden Netzdiagramme, die durch die gesendeten Datenpakete einzelner Internetaktivitäten gezeichnet werden.

Schrumpfende Brocken

Seitdem uns die immense materielle Infrastruktur bewusst ist, versuchen wir, unsere persönlichen BROCKEN schrumpfen zu lassen. Denn je weniger Daten gesendet werden, desto weniger Infrastruktur wird benötigt. Wir verwenden also häufiger Lesezeichen, räumen unsere Postfächer auf. Natürlich streamen wir immer noch Filme, nehmen an Videokonferenzen teil und stellen – vielleicht auch manchmal überflüssige – Suchanfragen, so wie alle anderen Menschen. 

Klar ist aber auch, dass Verhaltensänderungen von Einzelpersonen nicht ausreichen. Es braucht auch eine Veränderung auf höherer Ebene. Deshalb wollen wir mit den BROCKEN überhaupt erstmal Aufmerksamkeit für die bloße Existenz dieser Infrastruktur schaffen. Bislang sind der BROCKEN und das Plug-in noch Prototypen. Aber schon jetzt macht er greifbarer, was sich eigentlich nicht greifen lässt: das digitale Nichts.

Erschienen am 20. Juli 2021 

Text
Maike Gebker, Anna Eckl und Eva Eiling sind Gestalterinnen und studieren Transformation Design in Braunschweig. Sie untersuchen sozial-ökologische Veränderungsprozesse und gestalten den Weg hin zu wünschenswerten Zukünften.

Inhalt

Unsterblich

In Zukunft werden uns immer mehr Tote begleiten: Als digitale Kopien, die nach dem Tod eines Menschen weiterreden, chatten, vielleicht sogar arbeiten. Aber wollen wir sie überhaupt haben in unserer Welt der Lebenden?

Vergiss es, Bruder.

Vergessen ist kein Unfall. Vergessen ist essenziell für unser Hirn, unser Leben, unsere Gesellschaft – ein aktiver Prozess. Ohne Vergessen wäre Erinnern ein Nichts.

Das dunkelste Kapitel der Physik

Viele Jahre lang suchen zwei Wissenschaftlerinnen den Beweis für die Dunkle Materie. Nicht nur die Theorie macht ihnen zu schaffen – auch die Männerwelt der Physik.

Ein Brocken Nichts

Im Internet ist alles einfach da und irgendwie kommt es zu uns. Dahinter stecken tausende Tonnen Metall und Kunststoff. Drei Studentinnen machen sie greifbar – mit dem BROCKEN.

Sie haben Nichts

Sonja und Petra haben körperliche Beschwerden. Niemand kann erklären, woher sie kommen. Sind sie harmlos oder tödlich? Über den schmalen Grat zwischen Nichts und Etwas in der Medizin.

Wenn das Seil reißt

Über Pannen, gescheiterte Experimente, misslungene Entwicklungen wird nicht gern gesprochen. Doch das Scheitern gehört zu jeder echten Forschung – die Wissenschaft muss lernen, es zu umarmen. Ein Plädoyer.

Nichts bleibt

Barfuß oder Lackschuh,
Alles oder nichts? Die Playlist.

Leere Gedanken

Wer zum ersten Mal meditiert, merkt: Schon bald funken Gedanken dazwischen. Wie erreichen Profis die ersehnte Stille im Kopf? Und was weiß die Neurowissenschaft über diesen Zustand?

Es war Bobobees Idee

Ein Erfinder trifft seine Erfindung wieder – nur kommt sie jetzt aus China. Ein Interview.

Was ich höre

Vier Minuten, dreiunddreißig Sekunden: Nichts. Unsere Autorinnen erzählen von einem Hörerlebnis.