Ist das die Zukunft der Medizin? Wir spinnen verschiedene Szenarien – und fragen Expert:innen: Was ist Science-Fiction, was bald schon Realität?
Hier: Was kann die Technik in der Telenotfallmedizin, Herr Opitz? Und wie funktioniert das in der echten Welt, Frau Metelmann?

Text
Bernd Eberhart

»Verdammte E-Blades«, flucht Decker, als sie zu dem blutenden Mädchen läuft und sich die Brille über den Kopf streift. Früher, als ihr Beruf noch »Rettungsassistentin« hieß und sie in einem dieseldurstigen Rettungswagen durch die Straßen jagte, waren die Kids noch mit Muskelkraft unterwegs. Aber seitdem die Skates von alleine fahren, sind sie unkontrollierbar schnell. Decker kniet sich neben das Mädchen, ein Teil der Routine ist noch dieselbe wie früher: »Hallo, wie heißt du, hast du Schmerzen, wir sind da, um dir zu helfen.« Ihr Kollege hat dem Mädchen den Sensorgurt angelegt, Puls, Blutdruck, Blutsauerstoff, EKG gehen zusammen mit den Aufnahmen der Brille direkt an die Zentrale. Decker ergänzt die Daten über den Sprachassistenten: »Verdacht auf Schienbeinfraktur links, Platzwunde über linkem Auge. Verdacht auf Gehirnerschütterung.« Die Augmented Reality ihrer Brille blendet ein 3-D-Hologramm der Patientin über ihre reale Kontur, mit geübten Handgriffen zeichnet Decker die Verletzungen ein. Die KI hat mithilfe der Daten eine Liste mit Handlungsempfehlungen erstellt, aber Decker blendet direkt Dr. Gomez in ihr Blickfeld ein. Aus der Zentrale gibt die Telenotärztin weitere Tipps, und über die Brille könnte sie Decker unkompliziert zur Gabe von Spritzen oder zu anderen invasiven Maßnahmen autorisieren. Früher, erinnert sich Decker, war das eine rechtliche Grauzone – wer auf die Schnelle keinen Arzt erreichen konnte, riskierte damit den Job. Der Fall heute ist Routine, das Mädchen ist stabil, Decker und ihr Kollege laden sie in den Rettungs-Scooter. Früher hätten sie das Landkrankenhaus um die Ecke angefahren. Doch seitdem die Zahl der Kliniken in Deutschland halbiert wurde, sind Notfallsanitäterinnen wie Decker besser ausgebildet, besser ausgerüstet – und die Überlebensraten in der Notfallmedizin sind sogar gestiegen. KI, VR und Telemedizin haben die Branche in den letzten Jahren ziemlich umgekrempelt, überlegt Decker. »Aber irgendjemand wird immer raus müssen. Zu echten Menschen, echtem Blut. In die echte Welt.«

Was kann die Technik in der Telenotfallmedizin, Herr Opitz?
Rein von der technischen Entwicklung her ist das alles schon machbar. Die Frage ist also gar nicht, ob es zu diesem Szenario kommt, sondern wann. Aber natürlich hinkt die Regulierung den technischen Möglichkeiten immer ein wenig hinterher.

Telenotärzte sind noch kein Standard in Deutschland, aber es gibt schon mehrere Modellprojekte, mit echten Patienten. Knackpunkt für jede technologische Innovation ist ihre Implementierung, ihre Umsetzung in den Versorgungsalltag. Hier in der Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg arbeiten wir sozusagen als Implementierungsbeschleuniger: Wir analysieren zum Beispiel technologische Innovationen, starten Modellversuche und evaluieren, ob sie mehr Patientennutzen bringen und auch gesundheitsökonomisch sinnvoll sind.

Schon Realität: Sanitäter:innen mit VR
In Modellprojekten haben die Notfallsanitäter tatsächlich Virtual-Reality-Brillen auf, die den Telenotärzten in der Zentrale ein identisches Blickfeld bieten. Im Idealfall haben wir irgendwann dann solche Brillen wie die Notfallsanitäterin im Szenario: mit virtuellem Bildschirm und bei jedem Schritt unterstützt von Künstlicher Intelligenz, die beispielsweise bei Diagnostik und Entscheidungen – mit sogenannten Decision-Support-Systemen – hilft. Die Technik an sich ist nicht das größte Problem. Schwieriger ist allerdings, eine technische Innovation als Medizinprodukt zu zertifizieren und serienreif zu machen. Ein Beispiel einer KI-unterstützen Diagnostikhilfe ist die Watson-Plattform, ein viel beachtetes Decision-Support-System, das vor allem in der Krebsbehandlung eingesetzt wurde: Inzwischen wurde es aber fast überall wieder abgeschaltet, weil es die Erwartungen nicht erfüllt hat.

Früher gab es das Fernbehandlungsverbot: Das hat eine Behandlung aus der Ferne nur dann erlaubt, wenn der Arzt einen Patienten zuvor schon in echt untersucht hatte. Im Kontext der Tele-Notfallmedizin ergibt das natürlich keinen Sinn – und oft auch in der Telemedizin insgesamt, wie die Pandemie derzeit deutlich macht. Im Mai 2018 hat die Bundesärztekammer ihre Musterberufsordnung in diesem Punkt geändert. Mittlerweile sind ihr fast alle Landesärztekammern gefolgt – und haben das Verbot gekippt.

Bessere Behandlung, mehr Rechtssicherheit
Ein großer Vorteil der Telemedizin ist, dass sich verschiedene Experten unkompliziert zusammenbringen lassen. Nicht nur in der Notfallmedizin, sondern zum Beispiel auch in der Pflege, etwa bei der Wundversorgung: Der Pflegedienst vor Ort könnte beispielsweise eine virtuelle Konferenz abhalten mit der Hausärztin und dem Wund-Team, könnte Wundabstriche machen, DNA-Analysen und eine Erregerdiagnostik – und hätte plötzlich ganz andere Ergebnisse und Behandlungsmöglichkeiten. Und die Kräfte vor Ort hätten mehr Rechtssicherheit, weil sie sich mit Experten zeitgleich absprechen können und alles direkt dokumentiert wird.

»Ein großer Vorteil der Telemedizin: Man kann verschiedene Experten unkompliziert zusammenbringen.«

Oliver Opitz

 

Im Szenario wird beschrieben, dass die Zahl der Kliniken in Deutschland halbiert wurde. Bestimmt werden im Zuge der Umstrukturierung des Krankenhauswesens in den nächsten Jahren auch Kliniken geschlossen. Aber vermutlich nicht die Hälfte, das ist wahrscheinlich übertrieben. Viel wichtiger ist, dass sie umgestaltet werden: Aufwendige Operationen und Behandlungen, für die es viel Übung und entsprechende Patientenzahlen braucht, werden immer öfter in Zentren durchgeführt. Wir brauchen aber auch eine Art »Smarte Landklinik«, in der Patienten sektorenübergreifend und digital vernetzt behandelt werden, entweder ambulant oder für wenige Tage stationär. Auch hier bietet die Telemedizin tolle Optionen: So können auch in der Landklinik verschiedene Fachärzte von ganz unterschiedlichen Standorten Patienten betreuen und so die Versorgung verbessern.

Und wie funktioniert das in der echten Welt, Frau Metelmann?
Fast genau so laufen manche Fälle ab, die ich schon heute als Telenotärztin annehme. Von meiner Telenotarzt-Zentrale in Greifswald aus betreue ich über 15 Rettungswagen in zwei Rettungsdienstbereichen, Vorpommern-Greifswald und Vorpommern-Rügen. Da sitze ich vor meinen vier Bildschirmen und warte auf einen Anruf – je nach Dringlichkeit ist er von einem Rettungsteam in die Kategorien Rot, Gelb oder Grün eingestuft. Die Notfallsanitäterin vor Ort nennt mir dann erst die Rahmendaten, zum Beispiel: »Wir sind in Sassnitz bei Frau Tennemann, 87 Jahre alt, Verdacht auf hypertensive Entgleisung.« Daraufhin gehen wir zusammen ein Schema durch, um die wichtigsten Parameter abzuklopfen: ob die Atemwege frei sind, ob die Patientin Schmerzen hat, zum Beispiel. Das ist alles standardisiert und geht ganz schnell. Dann stellt mir die Notfallsanitäterin meist eine konkrete Frage, etwa: »Wir würden gerne 10 Milligramm Ebrantil geben zum Blutdrucksenken, in Ordnung?« Oder: »Ist der Patient stabil genug, dass wir ihn zuhause lassen können?« Oder auch: »Die Patientin nimmt regelmäßig Medikament X, kannst du herausfinden, was das ist?« Aber manchmal rufen mich auch junge Kollegen an, die sagen einfach: »Wir wissen nicht weiter – was sollen wir tun?« Aus der Zentrale kann ich sie dann anleiten und – sofern sie dazu nicht ohnehin befugt sind – zum Beispiel dazu autorisieren, einen intravenösen Zugang zu legen oder Morphin gegen starke Schmerzen zu geben.

Medizinische Daten in Echtzeit
Praktisch ist, dass unser System einfache und schnelle Kommunikation ermöglicht. Mir werden in Echtzeit alle Messdaten aus dem Rettungswagen übertragen, ich kann zum Beispiel ein EKG direkt an meinem Monitor verfolgen, ich kann es vergrößern, ausmessen – und niemand muss es umständlich in Worte fassen. Denn das ist so komplex, da kapiert man oft gar nicht, was der andere beschreibt.

Gerade bei einem Notfall ist es extrem wichtig, dass sicher kommuniziert wird. In anderen Regionen kommt es immer wieder vor, dass in der Eile Fotos von Patientenakten oder von Verletzungen per Messengerdienst übers Handy verschickt werden. Datenschutzrechtlich ist das nicht erlaubt. Das ist ein weiterer Vorteil unseres Systems: dass die ganze Kommunikation geschützt abläuft.

Ein ganz praktisches Problem der Telenotfallmedizin ist die Netzanbindung. Unsere Übertragungsgeräte sind zwar mit drei SIM-Karten ausgestattet, die sich immer in das stärkste Netz einwählen. Aber auf dem platten Land oder zwischen großen Häuserblöcken kann es doch mal schwierig werden. Oder in Häusern mit Reetdach, da ist der Empfang besonders mies. Das liegt daran, dass das Reet mit einem Drahtgeflecht befestigt ist. Aber die Rettungsdienstmitarbeiter sind da erfinderisch und halten etwa das Empfangsgerät aus dem Fenster.

»Manchen von uns fehlen die Sirenen, das Adrenalin.«

Camilla Metelmann

Die Videoübertragung per Brille haben wir übrigens in einem Forschungsprojekt untersucht und wieder abgeschafft. Denn das identische Blickfeld ist auch ein Nachteil: Beim Einsatz guckt man andauernd in der Gegend herum, vom Patienten zum Monitor zur Kollegin und wieder zurück – da wird uns Telenotärzten in der Zentrale ganz schlecht dabei. Jetzt filmen die Kollegen meistens mit dem Smartphone. Aber wir sind ja alle erfahren, da ist das meistens gar nicht nötig. So ein System, wie es im Szenario beschrieben ist, mit Augmented-Reality-Brillen und so weiter – ich glaube nicht, dass wir das wirklich brauchen.

Den Blick für die echte Welt behalten
Als Telenotärztin hat sich mein Einsatzspektrum sehr verändert. Bei Verkehrsunfällen zum Beispiel bin ich selten dabei, denn da sind vor allem manuelle Fähigkeiten gefragt. Auch psychiatrische Fälle sind schwierig – stellen Sie sich vor, jemand hat Wahnvorstellungen und dann reden alle per Headset mit einer Notärztin, die keiner sieht. Da ist persönlicher Kontakt wichtig. Natürlich, manchen von uns fehlen die Sirenen, das Adrenalin – viele von uns sind ja genau darum in der Notfallmedizin. Aber wir dürfen gar nicht zu 100 Prozent aus der Zentrale arbeiten, wir müssen regelmäßig Einsätze im Rettungswagen oder Helikopter begleiten. Damit wir nichts verlernen und einen Blick für die echte Welt behalten – zum Beispiel für die Logistik: Wie kriegen wir nur den 140-Kilo-Mann über diese schmale Treppe?

 

Prof. Dr. Oliver G. Opitz ist Leiter der Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Ihr Ziel ist es, digitale und hybride Innovationen und Versorgungskonzepte in die Anwendung zu überführen.

Dr. med. Camilla Metelmann ist Notfallmedizinerin und stellvertretende Leiterin der Arbeitsgruppe Forschung in der Notfallmedizin der Universitätsmedizin Greifswald. Als Telenotärztin arbeitet sie im Projekt »Land I Rettung«, das 2017 ein Telenotarztsystem in ländlichen Regionen Vorpommerns einführte.

Erschienen am 11. März 2021 

Text
Bernd Eberhart

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Text
Bernd Eberhart